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08. Dezember 2008, von Michael Schöfer
Kassandrarufe


Wir leben in spannenden Zeiten: Vor zwanzig Jahren brach der Kommunismus zusammen, jetzt ist der Kapitalismus in einer ernsten Krise. Für Schreiberlinge gibt es also gegenwärtig jede Menge Anlässe, bissige Kommentare zu verfassen und ins Internet zu stellen. Gleichwohl registriere ich bei mir eine regelrechte Abneigung, darüber zu schreiben. Und zwar deshalb, weil die heute zutage tretenden Probleme im Grunde schon vor vielen Jahren vorhergesagt wurden. Im Westen nichts Neues, möchte man ausrufen, alles längst bekannt. Beispiele gefällig?
  • Die Anfälligkeit der deutschen Wirtschaft aufgrund ihres überhöhten Exportanteils: Davor haben alternative Ökonomen bereits vor 20 Jahren gewarnt. Bedauerlicherweise vergebens. Der Binnenmarkt wurde allen Warnungen zum Trotz überwiegend als Kostenträger (Stichwort Lohnkosten) angesehen, doch die starke Exportorientierung erweist sich nun - wie einst prognostiziert - als Achillesferse des Standorts Deutschland.
  • Die Krise der Automobilindustrie: Seit mindestens 15 Jahren wird den Herstellern vorgeworfen, ihre Fahrzeuge seien zu schwer, zu schnell, zu teuer und vor allem, was den Benzinverbrauch angeht, zu durstig. Kritiker wurden lauthals ausgelacht, schließlich brummte bis vor kurzem das Geschäft. Heute brechen allerdings die Verkaufszahlen ein, die Spritschlucker stehen fast unverkäuflich auf Halde und die Unternehmen rufen hilfesuchend nach Unterstützung durch den Staat.
  • Spekulationsbedingte Risiken der internationalen Finanzarchitektur: Auch darauf wurde seit langem hingewiesen. Der Versuch, allein mit Geld noch mehr Geld zu erwirtschaften, etwa über das geschickte Ausnutzen von kleinen Währungsdifferenzen, darf man mittlerweile als gescheitert bezeichnen. Einige haben frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass dem keinerlei realwirtschaftliche Vorgänge zugrunde liegen, die Spekulationsblase also irgendwann unweigerlich platzen werde. Der Wunsch nach Regulierung sei in einer globalisierten Welt absolut unzeitgemäß, bekamen sie zu hören. Außerdem verunglimpfte man sie als anachronistische Traditionalisten, denen jegliche ökonomische Kompetenz fehle. Dieser Vorwurf kam ausgerechnet von denen, die - wie man heute weiß - an der Komplexität ihrer eigenen Finanzinnovationen scheiterten (Arroganz paart sich gerne mit Dummheit).
Doch diejenigen, die durch ihr Handeln oder sträfliches Unterlassen die eigentliche Schuld an der Misere tragen, präsentieren sich heute ungeniert als scheinbar fachkundige Krisenmanager. Entsprechend fällt ihre Politik aus: Umweltschutz wird zum Beispiel nach wie vor nicht als ökonomische Chance begriffen, sondern lediglich als in der Not durchaus verzichtbarer Luxus. "Klimavorreiterin" Merkel möchte nämlich den Klimaschutz vorerst zurückstellen, also frisch, fromm, fröhlich bei der alten Dinosaurier-Technologie bleiben.

Dass sinkende Realeinkommen der Arbeitnehmer, u.a. zurückzuführen auf die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors und inhumane Hartz-Gesetze, die wahre Ursache der darniederliegenden Binnenwirtschaft sind, ignoriert man hartnäckig. Stattdessen wird im Brustton der Überzeugung vorgetragen, gerade weil Deutschland die Hartz-"Reformen" umgesetzt habe, könne es auf die Krise besser reagieren. Die dreiste Verdrehung von Ursache und Wirkung ist reine Zweckpropaganda, das neoliberale Credo demzufolge bei den Regierenden immer noch die Richtschnur des Handelns.

Kein Wunder, denn das Sagen haben die, die auch schon vorher das Sagen hatten. Was soll dabei also anderes herauskommen? Höchstens ein bisschen Kosmetik. Die eklatantesten Fehler wird man vielleicht korrigieren, aber schon macht man neue, etwa das unzureichende Konjunktur-Päckchen der Bundesregierung. Keynesianismus kann das Establishment nicht mal buchstabieren, geschweige denn umsetzen. Antizyklisches Verhalten ist offenkundig tabu. Daraus resultiert die Erkenntnis: Wer plant, einen Sumpf trocken zu legen, sollte nicht die Frösche damit beauftragen. Aber es kommt noch schlimmer: Gäbe es jetzt Bundestagswahlen, käme aktuellen Umfragen zufolge Schwarz-Gelb an die Macht. Die Aussicht auf eine Wirtschaftspolitik à la Westerwelle ist in hohem Maße besorgniserregend, denn das ist mit Sicherheit genau das, was wir momentan am allerwenigsten gebrauchen können.

Mit anderen Worten: Es ist wirklich deprimierend. Hat man nicht bereits vor langer Zeit vor alledem deutlich gewarnt? Was soll man jetzt noch dazu schreiben? Die gleichen Artikel von damals, mit den ewig gleichen, aber leider vollkommen wirkungslosen Argumenten? Kassandras Schicksal bestand bekanntlich darin, die Gabe der Vorhersehung zu besitzen. Gleichzeitig war sie dazu verflucht, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenken würde. Spätestens seit Homer wissen wir: Kassandra zu spielen ist alles andere als vergnügungssteuerpflichtig. Bleibt mir also bloß, der Hoffnung Ausdruck zu geben, die Wählerinnen und Wähler mögen klüger handeln, als es seinerzeit die Trojaner taten.