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27. Juni 2009, von Michael Schöfer
Scheiden tut weh


Als die Frankfurter Rundschau, die mich nun schon seit 30 Jahren begleitet, im Mai 2007 auf das handlichere Tabloid-Format umstieg, beteuerte der damalige Chefredakteur, Uwe Vorkötter, dass sich die linksliberale Ausrichtung des Blattes keinesfalls ändern werde. Auch vom Umfang her sei nicht geplant, die FR abzuspecken. Aber: "Wir wollen neue Zielgruppen gewinnen, vor allem Frauen und Leser zwischen 30 und 40 Jahren", begründete er die Formatänderung. [1] "Welche inhaltliche Veränderungen stehen darüber hinaus auf dem Programm", wurde er gefragt. Antwort: "Es gibt eine Fülle inhaltlicher Fragen, die wir untersuchen. Ein Punkt, der jenseits aller Details in meinen Überlegungen eine große Rolle spielt, ist die Flexibilität des täglichen Zeitungmachens. Sind wir wirklich offen, die Themen des Tages ihrem Gewicht entsprechend in die Zeitung zu bringen? Oder haben wir uns vielleicht in unseren Strukturen eingemauert, lassen wir uns von viel zu vielen verschiedenen Seitenköpfen den Inhalt vorgeben, erfüllen wir Rubriken und Formen, weil es sie nun mal gibt, nicht weil der Tag dafür die Themen bietet? Wir fragen uns zu oft, welche Texte wir für diese oder jene Seite haben oder bestellen müssen. Ich möchte lieber umgekehrt fragen, wie viele und welche Seiten brauche ich, um mein Thema angemessen ins Blatt zu bringen." [2]

"Wie viele Seiten brauche ich, um mein Thema angemessen ins Blatt zu bringen." Genau darauf kommt es an, das Tabloid-Format selbst ist im Grunde unwichtig. Entscheidend sind die Inhalte. Doch daran hapert es mittlerweile bei der Frankfurter Rundschau. Seit der Umstellung hat die Frankfurter Rundschau in meinen Augen viel an Informationswert verloren, ich fühle mich von dieser Zeitung im Gegensatz zu früher einfach nicht mehr umfassend informiert. Es fehlt an Tiefgang. Und die Gewichtung stimmt nicht. Beispiel: Michael Jackson ist tot. Ob er wirklich einer der prägenden Musiker unserer Tage war (King of Pop), kann ich nicht beurteilen, seine Musik hat mir jedenfalls nie gefallen. Soweit ich es verfolgt habe, hat er in den letzten Jahren eher mit misslungenen Schönheitsoperationen und dem Kindesmissbrauchs-Prozess Schlagzeilen gemacht, weniger mit herausragenden Alben. Aber über Kunst und deren Bedeutung kann man bekanntlich streiten. Wie hat heute meine Frankfurter Rundschau auf den Tod Jacksons reagiert? 9 Seiten Berichterstattung (Seite 1 bis 8 und Seite 48), darunter zwei ganzseitige Bilder. Der erste politische Artikel (über den Iran) findet sich auf Seite 9. Sorry, wenn ich die Bunte lesen will, kaufe ich die Bunte. Als Ralf Dahrendorf starb, der für die Entwicklung der Bundesrepublik ungleich wichtiger war als Jackson, brachte die FR zwei Tage später ebenfalls eine Würdigung. Umfang: etwas mehr als eine Seite - und das im Feuilleton auf Seite 32.

"Wie viele Seiten brauche ich, um mein Thema angemessen ins Blatt zu bringen." Stimmt. Meines Erachtens, die Fans von "Jacko" mögen mir verzeihen, ein krasses Missverhältnis, insbesondere für eine Zeitung, die ihren Lesern Qualitätsjournalismus bieten will. Außerdem: Muss ich wissen, dass Kate Moss den Laptop ihres Freundes während eines Beziehungsstreits im Swimmingpool versenkt hat? [3] Oder dass die Schauspielerin Mia Farrow um ihren Bruder trauert? [4] Nicht wirklich. Das künstliche Kniegelenk von Jane Fonda interessiert mich ehrlich gesagt genauso wenig. [5] Das echte war - vor 40 Jahren - wesentlich interessanter! Plötzlich lese ich in der FR von Promis, von denen ich gar nicht wusste, dass sie überhaupt existieren. Zugegeben, meist auf der letzten Seite, aber immerhin. Vermutlich liegt's an mir, offenbar mutiere ich langsam zum Dinosaurier, über den die Zeit mit ihren vielen B- und C-Promis hinwegzugehen scheint.

Mächtig geärgert habe ich mich über die Kolumne "Netz-Anarchos und trojanische Pferde" von Herfried Münkler, Politikprofessor an der Humboldt-Universität. [6] Über die Gegner von Internetsperren schreibt Münkler: "Es ist eine eigentümliche Schar, die sich unter dem Banner der Netzfreiheit versammelt hat. Einerseits kriminelle Geschäftemacher, die das Internet benutzen, um verbotene Produkte an den Mann zu bringen, und andererseits ein Ensemble von Freiheitskämpfern, die ihre anarchistischen (kein Staat!) oder kommunistischen Ideen (kein Eigentum) in der virtuellen Welt des Internets realisieren wollen." Mit anderen Worten: Wenn ich mich gegen die Internetsperren wende, die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (Spitzname "Zensursula") angestoßen hat, bin ich entweder kriminell (will heißen: Verbreiter bzw. Konsument von Kinderpornos) oder Anarchist respektive Kommunist. Das ist plattes Bild-Zeitungs-Niveau. Dies in einem linksliberalen Blatt zu lesen, hat mich ehrlich gesagt überrascht. Wie gefährlich Internetzensur ist [7], und dass sich die Einwände der Gegner exakt darauf beziehen, hat Münkler geflissentlich ignoriert.

"Das Gesetzesvorhaben sollte bloß sicherstellen, dass das, was für Printmedien gilt, auch im Internet gelten soll: dass der Erwerb von Kinderpornografie unter Strafe steht", hält uns Münkler vor. Der Herr Professor musste sich jedoch von Leserbriefschreibern belehren lassen: "Danke für diese Diffamierung! (...) Tatsache ist: Der Erwerb von Kinderpornographie ist bereits verboten und steht unter Strafe. Dies gilt auch für das Internet! (...) Die Kritiker des Sperrgesetzes bemängeln, dass dieses Gesetz Kinder in keiner Weise vor Missbrauch schützt und auch einen Zugang nicht wirksam verhindert. Diese Positionen wurden u.a. von Vertretern des BKA bei der Expertenanhörung im Bundestag bestätigt." [8] Übrigens, Münkler ist jener kreativ denkende Professor, der zur Lösung der Ernährungsprobleme von Hartz-IV-Empfängern die kostenlose Bereitstellung von Schrebergärten und Gartengrundstücken empfahl. [9] Aufgeregt habe ich mich auch über die zahlreichen Artikel über Spritschlucker, die meiner Meinung nach wenig zur kritischen Umweltberichterstattung im Politikteil passen wollten. [10]

Was in der FR nach wie vor Spitze ist, sind die Artikel und Kommentare von Robert von Heusinger - ganz in der Tradition des unvergessenen Rolf Dietrich Schwartz. Der Wirtschaftsteil hat sich bislang erfreulicherweise allen neoliberalen Modeerscheinungen hartnäckig verweigert. Andere Zeitungen mussten ihre Meinung angesichts der Finanzkrise revidieren, häufig um 180 Grad, die FR konnte hingegen zu Recht darauf verweisen: Haben wir doch schon immer gesagt! Dennoch, insgesamt gesehen bin ich mit der Frankfurter Rundschau immer unzufriedener geworden. Und als ich dann kürzlich im Urlaub eine Woche lang die Süddeutsche las (am Urlaubsort war keine einzige FR aufzutreiben), glaubte ich, was Umfang und Qualität angeht, meine "alte" Frankfurter Rundschau vor Augen zu haben. Nach der Rückkehr habe ich zwar noch etwas gezögert, aber schließlich nach ein paar Tagen Bedenkzeit schweren Herzens mein Abo bei der FR gekündigt. Scheiden tut weh. In der Tat. Doch ich habe bereits eine Neue im Auge: Wahrscheinlich lese ich künftig die SZ.

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[1] Handelsblatt vom 30.05.2007
[2] epd medien Nr. 72 vom 13.9.2006
[3] Frankfurter Rundschau vom 24.06.2009
[4] Frankfurter Rundschau vom 18.06.2009
[5] Frankfurter Rundschau vom 19.06.2009
[6] Frankfurter Rundschau vom 16.06.2009
[7] siehe Genau das, was allgemein erwartet wurde
[8] Frankfurter Rundschau vom 20.06.2009
[9] siehe Einer Nation, die solche Professoren hat, gehört die Zukunft
[10] siehe Getarnte Werbetexte der Autoindustrie in der FR?