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01. November 2009, von Michael Schöfer
Grundsätzliches


Man mag sich darüber ärgern, dass die neue schwarz-gelbe Bundesregierung Steuersenkungen plant. Man mag sich genauso darüber aufregen, dass die Kernkraftwerke nun voraussichtlich noch ein paar Jahre länger laufen. Und ebenso schlimm ist sicherlich die vorgesehene Kopfpauschale im Gesundheitswesen. Doch lenkt man seinen Blick auf das Grundsätzliche und fort von der Tagespolitik, erscheint alles in einem ganz anderen Licht.

Menschliche Schwächen sind nicht auf ein bestimmtes Gesellschaftssystem begrenzt. Und in jedem System gibt es Menschen, die ihre Macht missbrauchen. Das ist normal. Doch kommt es dort, wo Macht keiner wirksamen Kontrolle unterliegt, zwangsläufig zu enormen gesellschaftlichen Verwerfungen. Machtmissbrauch ist unter solchen Umständen sogar die Regel. Am Ende wird den Bürgern vorgeschrieben, was sie zu denken haben und äußern dürfen - selbst wenn das der ursprünglichen Intention des Systems widerspricht. Ein bekanntes Beispiel: Nur durch die fehlende Kontrolle der Mächtigen konnte der Sozialismus, der einst die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatte, so grauenvoll entarten.

Kritiker sind häufig unbeliebt, und mancher möchte am liebsten jegliche Kritik unterbinden. Vor allem, wenn die Kritik ihn selbst betrifft. Die Grundsätze, auf die sich die demokratische Gesellschaft geeinigt hat, nämlich u.a. die Meinungsfreiheit zu schützen, verhindern das jedoch. Machtmissbrauch ist deshalb nur in engen Grenzen möglich. Die Ziele der Tagespolitik mögen wechseln, je nachdem welche Regierung gewählt wird. Das Prinzip, gegenüber Veränderungen offen zu sein, sollte dagegen immer Bestand haben. Die Wähler mögen irren, eine Regierung versagen - das ist in einem offenen System alles korrigierbar. Ernst, im Sinne von existenzgefährdend, wird das Ganze nur, wenn der politische Wechsel unterbunden wird.

Insofern kann ich zwar beklagen, dass sich der Wähler am 27. September mehrheitlich für Schwarz-Gelb entschieden hat, muss diese Entscheidung aber im Rahmen des demokratischen Wechselspiels anerkennen. Schwarz-Gelb an den Schalthebeln der Macht zu wissen, ist in meinen Augen weniger schlimm, als in einem System zu leben, in dem Schwarz-Gelb - egal wie der Wähler entscheidet - niemals an die Macht kommen könnte. Die demokratischen Prinzipien sind m.E. so wertvoll, dass ich jedem misstraue, der sie zur Disposition stellt. Mit anderen Worten: Die Laufzeit der Kernkraftwerke ist verhandelbar, die Meinungsfreiheit und die Mechanismen der Gewaltenteilung sind es nicht.

Wenn ich dann solche Sätze lesen muss, "In einer sozialen und solidarischen Gesellschaft sollten Gerichte und Staatsanwaltschaften entbehrlich sein" [1], frage ich mich, welcher Gesellschaftsentwurf dahintersteckt. Ist es Naivität oder der Versuch, die Gewaltenteilung abzuschaffen?

Es wird zwischen Menschen immer Interessenkonflikte geben. Folglich wird man immer Institutionen brauchen, die über diese Interessenkonflikte entscheiden. In einem Rechtsstaat sind das die unabhängigen Gerichte. Und Staatsanwaltschaften werden nur überflüssig, wenn es keine Rechtsbrecher mehr gibt. Aber es ist extrem blauäugig, an das Aussterben der Kriminalität zu glauben. Wer die Justiz zur Disposition stellt, muss sich überdies nach seinem Demokratieverständnis fragen lassen. Im Rahmen der Gewaltenteilung ist sie nämlich unentbehrlich, ohne eine unabhängige Justiz wäre der Missbrauch von Macht praktisch vorprogrammiert. Die Abschaffung der Gerichte und Staatsanwaltschaften würde zweifellos das Funktionieren der offenen Gesellschaft massiv in Frage stellen. Da erscheint mir, grundsätzlich betrachtet, Schwarz-Gelb dann doch als das geringere Übel.

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[1] Die Linke, Entwurf Landtagswahlprogramm NRW, Seite 42, Zeile 2002, PDF-Datei mit 453 kb

Nachtrag (23.11.2009):
Die umstrittene Passage über die Entbehrlichkeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften ist nicht in die Endfassung des Landtagswahlprogramms der NRW-Linken übernommen worden. Vielmehr heißt es jetzt dort: "Die Gewährleistung von Recht und Gerechtigkeit ist in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat und in einer zunehmend komplexeren Gesellschaft ein hoher Wert. Unabhängigen Gerichten kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu, weil ihnen in diesem Rechtssystem die Aufgabe zufällt, geltendes Recht effektiv und zügig durchzusetzen." (Seite 62f)