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01. Februar 2011, von Michael Schöfer
Wie wird man eigentlich Wirtschaftsjournalist?


Diese Frage hat mich heute wirklich beschäftigt. Auslöser war Markus Balsers Kommentar "Hurra, sie kaufen noch" in der Süddeutschen Zeitung von heute. Balser feiert darin die Konsumenten: "Konsument und Konsumentin kauften das Land in den vergangenen Monaten aus der Krise." Angeblich tragen die Deutschen ihr Einkommen "beherzt in die Einkaufszentren". Ökonomen sprechen laut Balser schon vom "Phänomen des Kaufbürgers". Das Pendant zum negativ besetzten "Wutbürger"? "Die Wissenschaftler der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) sagen für den Februar sogar das beste Konsumklima seit dreieinhalb Jahren voraus." Der Aufschwung werde daher, folgert der Wirtschaftsjournalist, 2011 "nicht mehr allein von der kräftigen Auslandsnachfrage getragen". Das will heißen: Alles wird gut.

Was für ein Bullshit. Fragen Sie mich mal nach meiner Laune, demnächst beim Hochsprung die Zwei-Meter-Marke zu überqueren. Da werde ich ihnen bestimmt antworten: "Meine Zuversicht ist riesengroß, schließlich trinke ich jeden Tag ein Glas Milch." Inzwischen mit einem kleinen Bäuchlein gesegnet (Bloggen ist bekanntlich ungesund), würde ich die Latte jedoch ständig reißen, vielleicht sogar teilweise unterqueren. Jedenfalls niemals überspringen. Warum? Ganz einfach, weil meine Hochsprunglaune nicht im Einklang mit den mir momentan zur Verfügung stehenden körperlichen Fähigkeiten steht. Da klafft eine ziemlich große Lücke. Würde mich Balser dennoch als kommenden Hochsprungkönig feiern? Wohl kaum, er würde Wunschdenken und Realität strikt voneinander trennen.

Auf seinem Fachgebiet kommt Balser indes mächtig ins Straucheln. Die Konsument hätten das Land in den vergangenen Monaten aus der Krise gekauft und ihr Einkommen beherzt in die Einkaufszentren getragen? "Im Dezember 2010 erzielte der Einzelhandel in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen aus sieben Bundesländern nominal 0,3% mehr und real 1,3% weniger Umsatz als im Dezember 2009", meldet das Statistische Bundesamt. [1] Ist das der Konsumboom, über den im Weihnachtsgeschäft alle jubelten? Real 1,3 Prozent weniger? Dabei hatte der Dezember 2010 sogar einen Verkaufstag mehr als der Dezember 2009. "Das diesjährige Weihnachtsgeschäft ist laut Volkswirten der Auftakt zu einem kräftigen Wachstum des Konsums auch im kommenden Jahr. 'Das Weihnachtsgeschäft dürfte in diesem Jahr 2,5 Prozent besser als 2009 ausfallen', sagte Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE)", mitten im Weihnachtsrummel. [2] Nun, der Auftakt zu einem kräftigen Wachstum des Konsums ging offenbar gründlich daneben.

Nach vorläufigen Zahlen, ich betone: vorläufigen, hat der Einzelhandel 2010 zwar real 1,2 Prozent mehr umgesetzt als im Jahr zuvor. Nach einem Rückgang von 3,1 Prozent im Jahr 2009 kann allerdings kaum davon gesprochen werden, die Konsumenten hätten das Land aus der Krise gekauft. Die Umsätze liegen nämlich preisbereinigt nach wie vor unter Vorkrisenniveau. Der Konsum ist noch mitten in der Krise.

Im vergangenen Jahr sind die gesamten privaten Konsumausgaben real um lediglich 0,5 Prozent gestiegen (zum Vergleich: der Export erzielte ein Plus 14,2 Prozent). [3] Wie sich die Preise 2011 entwickeln, kann naturgemäß nur geschätzt werden. Der Bundesverband Deutscher Banken sagt in seiner Konjunkturprognose eine Preissteigerung von 1,7 Prozent voraus, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erwartet hingegen bloß 1,4 Prozent. Nehmen wir an, die Einkommen der Arbeitnehmer steigen 2011 im Durchschnitt um 2,5 Prozent. Abzüglich der Inflationsrate und den höheren Abgaben (Stichwort: Beiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung) kommt dabei bestenfalls eine schwarze Null heraus. Die Betonung liegt auf "bestenfalls". Viele werden 2011 abermals weniger in der Tasche haben. "Mehr Netto vom Brutto", den Wahlspruch der schwarz-gelben Bundesregierung, kann man also vergessen. Woher soll der phänomenale Aufschwung am Binnenmarkt kommen? Nichtsdestotrotz verkündet Balser: "Der Aufschwung 2011 wird nicht mehr allein von der kräftigen Auslandsnachfrage getragen."

Die Deutschen sind wieder optimistisch, die Sparquote sinke (was für höhere Konsumausgaben spreche), schreibt Balser. Und selbst nach dem Auslaufen der Abwrackprämie hätten die Deutschen den Autokauf keineswegs eingestellt. Die Fakten: "Deutsche sparen wieder etwas mehr", meldet das Statistische Bundesamt. [4] "Im ersten Halbjahr 2010 haben die privaten Haushalte in Deutschland 11,5 Prozent ihres Einkommens gespart. Im ersten Halbjahr 2009 waren es nur 11,2 Prozent." [5] Im dritten Quartal 2010 (aktuellere Daten liegen nicht vor) lag die Sparquote bei 9,6 Prozent. Das sind exakt genauso viel wie im dritten und vierten Quartal des Krisenjahrs 2009. [6] Das Minus beim Weihnachtsgeschäft wiederum lässt nicht gerade auf eine dramatisch gesunkene Sparquote im vierten Quartal 2010 schließen. Die Sparquote sinkt? Den Zahlen zufolge jedenfalls nicht. Im Gegenteil, sie ist, nach allem, was wir bislang wissen, 2010 höher als 2009.

Und laut dem Verband der Automobilindustrie (VDA) sind hierzulande zwischen Januar und Dezember 2010 2,9 Mio. Pkw zugelassen worden - 23 Prozent weniger als 2009. [7] Zugegeben, die Deutschen haben den Autokauf nach dem Auslaufen der Abwrackprämie nicht vollständig eingestellt. Doch das hat auch niemand vorhergesagt. Aber der Rückgang der Zulassungszahlen um fast ein Viertel widerspricht Balser deutlich. Die deutsche Automobilindustrie lebt wie bisher hauptsächlich vom Export, der Binnenmarkt hingegen liegt darnieder: Von 5,5 Mio. in Deutschland produzierten Pkw gehen 4,2 Mio. ins Ausland.

Fazit: Es ist wie bei meiner Hochsprunglaune, es klafft eine enorme Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Von meiner Laune unter Außerachtlassung meines körperlichen Zustands auf mein tatsächliches Verhalten zu schließen, ist daher gewagt. Dieser Grundsatz gilt auch für die Aussagen des Wirtschaftsredakteurs der SZ. Das Problem Balsers ist, dass die ökonomischen Fakten etwas anderes sagen. Außerdem: Wann lernen Journalisten endlich, dass es nicht auf die Kauflaune, sondern in erster Linie auf die zur Verfügung stehende Kaufkraft ankommt? Kauflaune allein generiert noch keinen Umsatz. Der Unterschied zwischen Balser und mir ist: Ich behaupte gar nicht, über eine zwei Meter hohe Latte springen zu können. Balser dagegen behauptet, auf dem Binnenmarkt würden Wunderdinge passieren. Anders ausgedrückt: Ich werde nie im Leben Hochspringer. Aber mich beschäftigt die Frage: Wie wurde Balser Wirtschaftsjournalist?

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[1] Statistische Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 042 vom 31.01.2011
[2] Financial Times Deutschland vom 13.12.2010
[3] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 010 vom 12.01.2011
[4] Statistische Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 396 vom 29.10.2010
[5] Mittelstanddirekt.de vom 29.10.2010
[6] Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 3. Vierteljahr 2010, Seite 10, PDF-Datei mit 463 kb
[7] VDA