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08. August 2011, von Michael Schöfer
Olle Kamellen


Mit Blick auf die Finanzkrise in Europa und den USA schreibt die Neue Zürcher Zeitung: "Noch ist es nicht zu spät. Dass Regierungen und Parteien in den USA und in Europa unter dem Druck der Märkte endlich beginnen, die strukturellen Fragen zu diskutieren, lässt hoffen. (…) Die Zeit andauernder keynesianischer Nachfragestimulierung muss enden. Die USA, viele europäische und auch einige asiatische Länder haben zu lange makroökonomische Ungleichgewichte ignoriert und über ihre Verhältnisse gelebt. Anpassungen sind nicht schmerzfrei zu haben. Sie erfordern echte Einschnitte, hartes Arbeiten und wieder mehr Raum für privates Unternehmertum." [1]

Nein, liebe Leser, wir schreiben nicht das Jahr 1981. Und dies sind nicht die eingängigen, aber nichtsdestotrotz falschen Thesen eines gewissen Ronald Reagan, der in jenem Jahr damit begann, die Vereinigten Staaten mit einer unternehmerfreundlichen Politik auf den Pfad des Ruins zu schicken. Als der Hollywood-Schauspieler im Januar 1981 sein Amt übernahm, betrugen die Schulden der USA 934 Mrd. US-Dollar. [2] Als er sein Amt im Januar 1989 wieder abgab, stand die Schuldenuhr auf 2698 Mrd. US-Dollar. [3]

Präsident [4]
Schulden Beginn der Amtszeit Schulden Ende der Amtszeit Anstieg in Prozent
Dwight D.Eisenhower (1953 - 1961) 0,273 Bio.$* 0,290 Bio.$ + 6,23%
John F. Kennedy (1961 - Nov. 1963) 0,290 Bio.$ 0,309 Bio.$ + 6,55%
Lyndon B. Johnson (Nov. 1963 - 1969) 0,309 Bio.$ 0,362 Bio.$ + 17,15%
Richard Nixon (1969 - Aug. 1974) 0,362 Bio.$ 0,482 Bio.$ + 33,15%
Gerald Ford (Aug.1974 - 1977) 0,482 Bio.$ 0,654 Bio.$ + 35,68%
Jimmy Carter (1977 - 1981) 0,654 Bio.$ 0,934 Bio.$ + 42,81%
Ronald Reagan (1981 - 1989) 0,934 Bio.$ 2,698 Bio.$ + 188,87%
George H. W. Bush (1989 - 1993) 2,698 Bio.$ 4,167 Bio.$ + 54,45%
Bill Clinton (1993 - 2001) 4,167 Bio.$ 5,716 Bio.$ + 37,17%
George W. Bush (2001 - 2009) 5,716 Bio.$ 10,632 Bio.$ + 86,00%
Barack Obama (seit 2009) 10,632 Bio.$ 14,342 Bio.$** + 34,89%
*Juli1953 (jüngere Daten nicht vorhanden)   **Juli 2011 (letzte verfügbare Daten)

Ronald Reagan ist unter den US-Präsidenten der absolute Schuldenkönig. Keiner hat - prozentual betrachtet - so viele Schulden angehäuft wie er. Seine Wirtschaftspolitik nannte man Reagonomics: "Senkung von Steuern, Vereinfachung des Steuersystems, weniger Hindernisse für die Industrie, Haushaltskürzungen bei sozialen Aufgaben, Ausbau der militärischen Rüstung." [5] Das volle neoliberale Programm eben. "Mehr Raum für privates Unternehmertum" praktizierte auch George W. Bush, der Vizeschuldenkönig unter den Nachkriegspräsidenten. Und ausgerechnet das will uns die Neue Zürcher Zeitung als Lösung empfehlen? Sorry, das hatten wir doch schon. Sogar bis zum Erbrechen. Der Neoliberalismus ist außerdem für die jetzige Krise verantwortlich, ohne die von Reagan und Konsorten betriebene Liberalisierung der Finanzmärkte wäre es wohl kaum zur aktuellen Finanzkrise gekommen.

Über die "nicht schmerzfreien Anpassungen" sollte die NZZ einmal die amerikanischen Automobilarbeiter befragen. Das Zentrum der US-amerikanischen Automobilindustrie (Motor City) verfällt zusehends, seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Einwohnerzahl halbiert. Ruinen von Industrie-, Geschäfts- und Wohngebäuden prägen ganze Stadtviertel. Die Kriminalität scheint der einzige Wachstumssektor zu sein: "2009 war Detroit auf der Forbes-Liste der gefährlichsten Städte der Vereinigten Staaten erneut auf Platz eins." [6] Schmerzen hatten die Automobilarbeiter dort genug. Den Reichen hingegen geht es besser denn je: Der Spitzensteuersatz wurde in den USA nach dem zweiten Weltkrieg peu à peu von 90 Prozent auf heute 35 Prozent reduziert. "Dank unzähliger Steuerschlupflöcher führen die 400 reichsten Amerikaner im Schnitt nicht mehr als 18 Prozent an den Staat ab und besitzen mehr als die untere Hälfte aller Bürger." [7] Liebe NZZ, ist das immer noch nicht unternehmerfreundlich genug?

Die von der NZZ empfohlenen Länder haben übrigens folgende Spitzensteuersätze: 46,41 % (Kanada, in der Provinz Ontario), 49,1 % (Finnland), 56,6 % (Schweden). [8] Aber ich bezweifle, dass die Schweizer Qualitätszeitung mit "nicht schmerzfreien Anpassungen" drastische Steuererhöhungen für die Reichen gemeint hat. Dabei wäre genau das notwendig. Angesichts der seit Jahrzehnten betriebenen Umverteilung von unten nach oben ist zudem fraglich, ob es in der Vergangenheit überhaupt zu der von ihr beklagten "keynesianischer Nachfragestimulierung" kam. Sollte der Keynesianismus ursprünglich nicht die breite Masse wohlhabender machen und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigern? Doch die Mittelschicht erodiert bekanntlich seit langem. Sollten in guten Jahren nicht Schulden abgebaut anstatt Spitzensteuersätze und Unternehmensteuern gesenkt werden? John Maynard Keynes verstand unter Nachfragestimulierung wohl kaum, den "fat cats" der Wall Street die Dollarbündel buchstäblich in den Rachen zu werfen.

Der Anteil der Industrie (inklusive des Energiesektors) am amerikanischen Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 1970 und 2007 von 28,7 Prozent auf 17,1 Prozent gefallen. Der Finanzsektor trug dagegen 2007 satte 33,0 Prozent zum BIP bei. [9] Die Deindustrialisierung der USA nimmt besorgniserregende Ausmaße an. Aber genau das sind doch die eigentlichen "makroökonomischen Ungleichgewichte". Die Amerikaner müssen zweifellos konkurrenzfähiger werden, allerdings nicht im Erfinden von immer komplizierteren Finanzprodukten, die niemand mehr durchschaut und die sich am Ende als "finanzielle Waffen zur Massenvernichtung" (Warren Buffett) entpuppen.

Zu guter Letzt: Die NZZ sollte sich fragen was passiert, wenn alle Industriestaaten die griechische Lösung praktizieren (Sparen, Sparen, Sparen - und das hauptsächlich beim gemeinen Volk). Die zwangsläufige Folge wäre eine tiefe Rezession, von der auch die vermeintlichen Musterknaben Deutschland und die Schweiz nicht verschont bleiben dürften. Der "Druck der Märkte" ist im Grunde irrational: Erst retten die Staaten den Bankern den Hintern, und zum Dank sollen sie jetzt in einem irrwitzigen Tempo die daraus resultierenden Schulden abbauen. Die Angst der Anleger führt gerade das herbei, was sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser: Staatsinsolvenzen. Je höher die Zinsforderungen, desto unwahrscheinlicher die Sanierung.

Eindimensional fordert die NZZ, so als ob das jetzt etwas helfen würde, lediglich eine höhere Dosis der ohnehin bereits gescheiterten Rezepte. Mit anderen Worten: Sie preist olle Kamellen an. Wenn Journalisten ihren allzu engen Denkschablonen folgen, sind die Leser die Leidtragenden. Letztere wundern sich dann, warum es trotz mehrmaliger Anwendung der neoliberalen Rezeptur immer schlechter wird. Qualitätsjournalismus sollte eigentlich anders aussehen.

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[1] NZZ-Online vom 07.08.2011
[2] U.S. Department of the Treasury, Bureau of the Public Debt, PDF-Datei mit 1,6 MB
[3] U.S. Department of the Treasury, Bureau of the Public Debt, PDF-Datei mit 2,2 MB
[4] U.S. Department of the Treasury, Bureau of the Public Debt, Monthly Statement of the Public Debt, sofern nicht anders vermerkt: Amtsbeginn und Amtsende jeweils Januar
[5] Wikipedia, Ronald Reagan, Wirtschaftspolitik
[6] Wikipedia, Detroit, Geschichte
[7] Berliner Zeitung vom 30.07.2011
[8] Wikipedia, Einkommensteuertarif, Internationaler Vergleich
[9] 1970: OECD, Factbook 2009: Economic, Environmental and Social Statistics, Excel-Datei mit 64 kb; 2007: OECD, National Accounts at a Glance 2009, Production, Value Added, PDF-Datei mit 296 kb