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24. September 2011, von Michael Schöfer
Piratenpartei - Backbord voraus!

Der überraschende Erfolg der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus (129.795 Zweitstimmen = 8,9 Prozent) hat - von rechts bis links - die etablierten Parteien mächtig aufgeschreckt. Natürlich hoffen die Piraten, bei der spätestens 2013 fälligen Bundestagswahl über die 5-Prozent-Hürde zu kommen. Glaubt man den Umfragen, können sich 19 Prozent eine Stimmabgabe für die Piratenpartei vorstellen. [1]. Bei der Sonntagsfrage (Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre...) kämen die Piraten momentan immerhin auf 4 Prozent - genauso viel wie die in Agonie liegende Regierungspartei FDP. Bei Letzterer ist die Tendenz allerdings fallend, die Piraten hingegen könnten ihren Erfolg ausbauen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass das derzeitige 5-Parteien-Parlament im Berliner Reichstag (Union, FDP, SPD, Grüne, Linke) bald kräftig durcheinandergewirbelt wird. Aus heutiger Sicht ist die Vorstellung, FDP raus, Piraten rein, durchaus real. Kein Wunder, wenn sich die Verantwortlichen der anderen Parteien verblüfft die Augen reiben. Den Piraten fliegen insbesondere aus dem Wählerreservoire der Grünen, Sozialdemokraten und Linken Sympathien zu. In Berlin gelang es ihnen obendrein, viele Nichtwähler zu aktivieren. Ein Gewinn für die Demokratie.

Über die Ursachen des Wahlerfolgs der Piraten bei der Berliner Landtagswahl herrscht Uneinigkeit, mit ein Grund dürfte jedoch die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien sein. Die Gründung neuer Parteien wird vom Establishment traditionell unterschätzt. So hat es etwa die SPD geschafft, seit Mitte der siebziger Jahre zwei Wählergenerationen nachhaltig zu verprellen: Einmal die aufkommende Ökobewegung, die in die Gründung der Grünen mündete. Und nach der Jahrtausendwende ein zweites Mal die sozial ausgerichtete Wählerschaft, die durch die Agenda-Politik Gerhard Schröders abgeschreckt und der Linken in die Arme getrieben wurde. Es ist daher einleuchtend, wenn die ehemalige Volkspartei SPD heute bundesweit kaum noch über die 30-Prozent-Marke hinauskommt. Stimmanteile von über 40 Prozent, wie sie bei Wahlen lange üblich waren, sind für die Sozialdemokraten mittlerweile fast unerreichbar. Der Wahlerfolg der Piratenpartei sollte folglich nicht als singuläres Ereignis unterschätzt werden.

Gleichwohl sollte man deren Stimmengewinne auch nicht überschätzen. In Schweden hat die Piratenpartei (Piratpartiet) zwar bei der Europawahl 2009 spektakuläre 7,1 Prozent (225.915 Stimmen) geholt, bei der Wahl zum Schwedischen Reichstag 2010 waren es freilich nur noch magere 0,65 Prozent (38.491 Stimmen). Bei unserem skandinavischem Nachbarn dürfte der Hype um die Piratenpartei bereits vorbei sein.

Hierzulande wird die Piratenpartei vor allem mit zwei Problemen zu kämpfen haben. Erstens strömen jetzt wahrscheinlich etliche zweifelhafte Persönlichkeiten in die Piratenpartei, die schon bei anderen Parteien gescheitert sind und sich nun bei den Piraten Karrierechancen ausrechnen. Erfahrungsgemäß kann man mit denen kaum erfolgreich Werbung machen. Das war bei vielen kurzzeitig erfolgreichen Parteien so, warum sollte es dann bei den Piraten anders sein. Dadurch könnte es zu heftigen innerparteilichen Querelen kommen, die aber vom Wahlvolk bekanntlich nicht honoriert werden.

Zweitens wird die Piratenpartei zur Zeit überwiegend als Ein-Punkt-Partei (Netzpolitik) wahrgenommen. Das Bild der Ein-Punkt-Partei ist dennoch falsch, so fordern die Berliner Piraten in ihrem Wahlprogramm die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und ein Grundeinkommen für alle Bürger - etwas, womit zum Teil auch schon Sozialdemokraten, Grüne und Linke hausieren gegangen sind. Sie sprechen sich für eine "nachhaltige, ökologische Wirtschaftspolitik" aus und lehnen "die Privatisierung von Diensten, wie Gas-, Strom- und Wasserversorgung, sowie Abwasserbehandlung" ab. [2] Erstaunlich: Das Wort "Finanzkrise" taucht weder im Berliner Wahlprogramm [3] noch im aktuellen Grundsatzprogramm der Bundespartei [4] auf. Obgleich man von einer neuen Partei nicht allzu viel erwarten darf, ist das drei Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ein eklatanter Mangel. Hier müssen die Piraten unbedingt nachlegen und ihre Programmatik vertiefen und verbreitern.

Jedenfalls wird das politische Spektrum der Republik durch die Piratenpartei bereichert. Und man darf gespannt sein, wie sich das Ganze entwickelt. Kollabiert das Finanzsystem, was nicht ausgeschlossen ist, wird sich die Parteienlandschaft ohnehin dramatisch verändern. Evolutionäre Änderungen sind eruptiven jedoch eindeutig vorzuziehen. Die Piraten sind diesbezüglich ein Hoffnungsschimmer - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Motto: Lieber Piraten als rechte Populisten à la Tea Party.

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[1] ZDF-Politbarometer vom 23.09.2011
[2] Piratenpartei Berlin, Wahlprogramm 2011 - Wirtschaft
[3] Piratenpartei Berlin, PDF-Datei mit 208 kb
[4] Piratenpartei Deutschland, PDF-Datei mit 415 kb