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08. Oktober 2011, von Michael Schöfer
Kurios, aber durchaus erklärbar


"Hätten Sie´s gewusst?", wird neuerdings in Baden-Württemberg gefragt: "Wer bei der Volksabstimmung am 27. November 2011 mit JA stimmt, spricht sich GEGEN das Projekt S21 aus. Wer mit NEIN stimmt, spricht sich FÜR den weiteren Bau von S21 aus. Für landesweite 'Verwirrung' könnte der amtliche Stimmzettel der Volksabstimmung sorgen." Man spricht allerdings nicht bloß von Verwirrung, sondern unterstellt der Landesregierung unterschwellig sogar eine bewusste Täuschung des Wahlvolks. Auch den Satz "Schilda lässt grüßen" liest man im Ländle immer wieder.

Das Ganze ist zwar kurios, aber durchaus erklärbar: "Wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt, kann die Regierung eine von ihr eingebrachte, aber vom Landtag abgelehnte Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringen", sagt die Landesverfassung von Baden-Württemberg (Artikel 60 Abs. 3).

Das von der Landesregierung eingebrachte "S21-Kündigungsgesetz", das die Beendigung der finanziellen Beteiligung des Landes am Bahnprojekt "Stuttgart 21" vorsah, wurde am 28. September 2011 vom Landtag erwartungsgemäß mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP abgelehnt.

Anschließend beantragten 68 der 138 Landtagsabgeordneten entsprechend Artikel 30 Abs. 3 der Landesverfassung, dass die Landesregierung das Volk über die abgelehnte Gesetzesvorlage abstimmen lässt. In einer Sondersitzung hat die grün-rote Landesregierung dann einstimmig beschlossen, die Volksabstimmung durchzuführen, folglich wird beim Referendum nur über das Gesetz (nicht über Stuttgart 21 selbst) abgestimmt.



Daraus ergibt sich logischerweise: Wer FÜR das Kündigungsgesetz ist, ist GEGEN "Stuttgart 21" und muss daher mit JA stimmen. Wer GEGEN das Kündigungsgesetz ist, ist FÜR "Stuttgart 21" und muss demzufolge mit NEIN stimmen.

Zugegeben, etwas verwirrend, aber genau so wird es von der Landesverfassung vorgeschrieben. Und man kann schließlich von der grün-roten Landesregierung nicht erwarten, gegen die Verfassung zu verstoßen. Dass der unter Stefan Mappus (CDU) von der schwarz-gelben Vorgängerregierung eingefädelte 4,7 Mrd. Euro teure Einstieg beim Energieversorger EnBW gegen die Verfassung verstieß, darf ja für Grün-Rot kein Maßstab sein. Außerdem hätten CDU und FDP bei einer von der Landesverfassung abweichenden Fragestellung gewiss umgehend auf deren Rechtswidrigkeit hingewiesen.

Sich jetzt über die buchstabengetreue Befolgung der Landesverfassung zu mokieren, zeugt entweder von Unkenntnis der Rechtslage oder ist Ausdruck der inzwischen üblich gewordenen Niedertracht. Meiner Ansicht nach liegt Letzteres vor. Politik ist bekanntlich ein schmutziges Geschäft. Oft geht es weniger um Sachpunkte, sondern vielmehr darum, dem politischen Gegner irgendwie zu schaden. An der verwirrenden Fragestellung ist nicht zuletzt die CDU selbst schuld, denn in der Vergangenheit hat sie eine Volksabstimmung über "Stuttgart 21" stets abgelehnt. Auch einer Änderung der Landesverfassung, die zum Ziel hatte, Referenden leichter durchführbar zu machen und einfacher zu gestalten, hat sie sich immer verschlossen. Wie heißt es so schön: "Wer anderen eine Grube gräbt..."

Im August waren nach einer Umfrage von Infratest-dimap 53 Prozent der Baden-Württemberger für das Bahnprojekt "Stuttgart 21", 32 Prozent dagegen. [1] Die etwas verwirrende, aber im Einklang mit der Verfassung stehende Fragestellung könnte dazu führen, dass S21-Befürworter am 27. November mit JA stimmen und so dem Ausstieg ungewollt zur Mehrheit verhelfen. Das wird jedenfalls von den Projektbefürwortern befürchtet. Doch man wird nie feststellen können, was die Wähler bei ihrer Stimmabgabe in der Wahlkabine tatsächlich denken. Folglich verbietet sich darüber jede Spekulation von selbst.

Und ob das Wahlvolk wirklich so dumm ist, wie von einigen unterstellt, ist unwahrscheinlich. Vor der Landtagswahl hat die CDU noch stolz damit geworben, Baden-Württemberg müsse in puncto Bildung "Nummer 1" bleiben. Die Betonung lag auf "bleiben". Das Land habe hoch qualifizierte Facharbeiter und Angestellte, hieß es. Baden-Württemberg sei ein einzigartiges Forschungs- und Technologieland. Jetzt daherzukommen und dem Wahlvolk zu unterstellen, die hoch qualifizierten Facharbeiter und Angestellten kämen bei der Volksabstimmung mit der Fragestellung nicht zurecht, ist grotesk. Ich bezweifle, dass die CDU mit ihrer Haltung ("je nachdem, wie ich es gerade brauche") die Macht zurückgewinnen wird. Das würde nämlich in der Tat dumme Wähler voraussetzen.

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[1] Stuttgarter Zeitung vom 19.08.2011