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01. Dezember 2011, von Michael Schöfer
Brutalstmögliche Aufklärung 2.0


Wenn in China oder andernorts Dissidenten willkürlich verhaftet werden, ist die Aufregung - zu Recht - riesengroß. Doch das Gleiche passiert neuerdings mitten in Deutschland, genauer gesagt in Hessen. Die Polizei ist eigentlich dazu da, die Einhaltung der Gesetze zu überwachen. Und natürlich muss sie sich an diese Gesetz auch selbst halten. Das nennt man gemeinhin Rechtsstaatlichkeit. Doch die hessische Polizei erscheint derzeit als konfuser Lotterhaufen.

Was ist passiert? 2006 wurde der Anarchist Jörg Bergstedt festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, "in Gießen ein Loch in die Tür der CDU-Geschäftsstelle gebohrt und Schmierereien nahe Bouffiers Wohnhaus gesprüht zu haben". [1] Volker Bouffier war damals Innenminister und ist heute hessischer Ministerpräsident. Schier unglaublich, wenn es nicht wahr wäre: Bergstedt wurde zur Tatzeit beim Federballspiel beobachtet - und zwar ausgerechnet von observierenden Polizisten. Er konnte also gar nicht der Täter sein, und die Polizei wusste das. Dennoch hat man Bergstedt für vier Tage in Gewahrsam genommen. Noch kurioser: Anscheinend wurden sogar die wahren Täter von der Polizei bei der Tat gesehen, verhaftet wurden diese jedoch nicht.

Ein Mobiles Einsatzkommando (MEK) habe die Täter beobachtet, "die sich an der Tür der CDU-Geschäftsstelle zu schaffen machten. Der Leiter des MEK-Einsatzes habe aber darum gebeten, 'dass die Streifen weg bleiben sollen', da der gesamte Einsatz sich 'gemäß Anordnung' des Polizeipräsidiums Mittelhessen 'auf die Person des Bergstedt konzentrierte'." Der Richter des zuständigen Amtsgerichts "wusste offenbar, dass der Beschuldigte zur Tatzeit an einem anderen Ort observiert worden war und schrieb per Hand 'nicht sagen!' auf den Gewahrsamsantrag." [2]

Angeblich sei die Aktion gegen Bergstedt von einer Polizeichef-Runde vorbereitet worden. Der jetzige Innenminister Boris Rhein bestätigte im Innenausschuss des Landtags das Treffen der höchsten Polizeibeamten, "die Besprechung habe aber nicht wegen Bergstedt stattgefunden. Es sei generell um die 'politisch motivierten Propaganda-Taten' in Gießen und den Schutz des dort wohnenden damaligen Innenministers Volker Bouffier (CDU) gegangen." [3] Das ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten dieses Falles.

Fest steht jedenfalls: Jörg Bergstedt wurde unrechtmäßig inhaftiert. Und man muss kein Anarchist sein, um das schlimm zu finden. Dazu genügt allein der Hinweis auf die Rechtsstaatlichkeit, der hierzulande alle Behörden unterworfen sind. Vor allem die Polizei. Gerade sie! Schließlich ist die Bundesrepublik keine Bananenrepublik, in dem irgendjemand unliebsame Personen einfach nach Gutdünken hinter Gitter wandern lässt. Insbesondere dann nicht, wenn sie erwiesenermaßen unschuldig sind. "Die Freiheit der Person ist unverletzlich", sagt das Grundgesetz. Und dieses Grundrecht gilt ohne Ansehen der Person für alle Bürger. Was freilich immer noch nicht feststeht: Wer für die staatliche Freiheitsberaubung verantwortlich und inwieweit Volker Bouffier selbst darin verstrickt ist. Außerdem stehen womöglich noch die Straftatbestände "Strafvereitelung im Amt" (§ 258a StGB) und "Rechtsbeugung" (§ 339 StGB) im Raum.

Doch der Fall Bergstedt ist nicht die einzige Baustelle in der hessischen Polizei: Da wäre etwa noch die "Polizeichef-Affäre" [4], die undurchsichtigen Umstände der Entlassung der LKA-Präsidentin Sabine Thurau [5], in die der inzwischen abgesetzte Landespolizeipräsident Norbert Nedela verwickelt sein soll, sowie Hausdurchsuchungsanträge "ins Blaue hinein" gegen kritische Polizeibeamte [6]. Und nun kommt auch noch der "kleine Adolf" dazu, der früher beim hessischen Landesamt für Verfassungsschutz gearbeitet hat und angeblich zufällig während der Tat bei einem Mord der "Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)" anwesend war. [7] Fürs LfV seinerzeit ebenfalls zuständig: Volker Bouffier. Bekanntlich stinkt der Fisch vom Kopfe her.

Volker Bouffier hätte viel aufzuklären - aber genau das ist nicht von ihm zu erwarten. Das System Koch ist unter seinem Nachfolger weiterhin in Kraft: die "brutalstmögliche Aufklärung" als Synonym für konsequente Verschleierung.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 25.10.2011
[2] Frankfurter Rundschau vom 25.10.2011
[3] Frankfurter Rundschau vom 03.11.2011
[4] Frankfurter Rundschau vom 12.05.2010
[5] FAZ vom 02.11.2010
[6] Frankfurter Rundschau vom 10.11.2011
[7] Frankfurter Rundschau vom 23.11.2011