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06. September 2018, von Michael Schöfer
Die "Mutter aller Probleme" ist ganz woanders zu suchen


Wann dämmert es den Regierenden endlich, dass sie Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung? Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat Verständnis für die Demonstranten in Sachsen, er erklärt die Migration sogar zur "Mutter aller Probleme". Ei der Daus, das hätte ich jetzt nicht gedacht. Wohnungsnot, horrende Mieten, Gentrifizierung? Ah geh, die Migration ist noch viel, viel schlimmer! Niedriglohnsektor, Leiharbeit, wachsender Anteil von Befristungen? Ah geh, die Migration ist noch viel, viel schlimmer! Die tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, Altersarmut, Pflegenotstand? Ah geh, die Migration ist noch viel, viel schlimmer! Mit so einer Ignoranz wird genau der Frust erzeugt, der die Menschen in die Arme der AfD treibt. Dass sich die Hetzer dadurch bestätigt fühlen, liegt auf der Hand.

Wobei die AfD, man schaue bloß einmal in ihr Programm, nur eine Scheinlösung ist. Außer der Präsentation von Sündenböcken ("die Ausländer sind schuld") hat sie nichts anzubieten. Viele Phrasen, wenig Substanz. Aber Seehofer gibt ihnen auch noch recht. Wenn es für politische Dummheit Preise gäbe, hätten einige anstatt der Modelleisenbahn Vitrinen voller Pokale im Hobbykeller stehen. Selbstverständlich sind nicht alle Demonstranten in Chemnitz Nazis, doch es haben sich eben viel zu viele mit den Nazis gemeingemacht. Wie naiv darf man eigentlich sein? Ich schreite ja auch nicht Seit' an Seit' mit der Antifa und beteuere anschließend: "Mit denen habe ich nichts am Hut." Bitte keine faulen Ausreden! Mitgefangen, mitgehangen!

Seehofer ist nicht der einzige Abwiegler, Kopfschütteln hinterlässt auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): "Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome in dieser Stadt." Wirklich nicht? Vermutlich war alles nur ein harmloser Abendspaziergang "besorgter Bürger". Und die Fernsehbilder sind natürlich gefakt. Wissen wir ja, "Lügenpresse" und so…  Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopfe her: Kretschmer war der Applaus von rechts gewiss, Jörg Meuthen (AfD) reagierte prompt und startete mit Verweis auf dessen Äußerung einen Angriff auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der sächsische CDU-Chef hinterlässt nicht zum ersten Mal den Eindruck, völlig überfordert zu sein.

Man kann dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im Grunde nur recht geben: "Durch die Reformen der 'Agenda 2010' und die Hartz-Gesetze ist der Arbeitsmarkt dereguliert und der Sozialstaat demontiert worden, was zusammen mit einer Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip ('Wer hat, dem wird gegeben, und wer kaum etwas hat, dem wird auch das noch genommen') zu einer Polarisierung der Sozialstruktur in Deutschland geführt hat. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte sind die Reichen reicher und die Armen zahlreicher geworden. Unter besonderen Druck geriet dadurch die Mittelschicht, in der sich die Angst vor dem sozialen Abstieg verbreitet hat." Und er warnt: "Mit dem Sozialstaat steht und fällt – zumindest in Deutschland – auch die Demokratie." [1] Das Establishment versagt, denn anstatt die selbst verursachten Probleme endlich anzupacken und zu bereinigen, heizen die Verantwortlichen lieber die Stimmung gegen die Migranten an. Die "Mutter aller Probleme" ist daher ganz woanders zu suchen. Und wo? Dreimal dürfen Sie raten.

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[1] Ossietzky 16/2018, Wie die AfD das Land verändert