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15. November 2018, von Michael Schöfer
Eine Ära des Stillstands


Angela Merkel hat sich 2015 bei der Frage, ob man notleidende Menschen in Deutschland aufnehmen soll, zweifellos große Verdienste erworben. Ihr damaliges Handeln war geprägt von Mitmenschlichkeit, dafür gebührt ihr Respekt. Ungeachtet dessen treibt sie einen mit ihrem behäbigen Regierungsstil langsam, aber sicher zur Verzweiflung. Den hat sie nämlich gerade wieder im Europaparlament in höchster Vollendung vorexerziert. Man müsse "an der Vision arbeiten, eines Tages eine echte europäische Armee zu schaffen", sagte sie dort. Wohl wissend, dass sich diese äußerst heikle Mammutaufgabe nicht so schnell realisieren lässt, wirft sie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron damit wenigstens einen Krümel scheinbaren Einverständnisses vor die Füße. Motto: "Ich und untätig? Von wegen!" Andere, für den Bestand der Europäischen Union wesentlich drängendere Fragen, wie etwa die EU-Arbeitslosenversicherung oder einen wie auch immer gearteten EU-Finanzausgleich, schiebt sie dagegen wie gehabt auf die lange Bank. "Wer Meinungs- und Pressefreiheit einschränkt, gefährdet Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa", betont die Bundeskanzlerin vollkommen zu Recht. Dennoch darf Viktor Orbáns Fidesz-Partei Mitglied in der Europäischen Volkspartei (EVP) bleiben. Finanzielle Konsequenzen für die Autokraten in Polen, Rumänien oder Ungarn? Pustekuchen! Das war und ist ihr Regierungsstil: Ankündigungen ohne echte Konsequenzen.

Genau das bringt ihre Kritiker buchstäblich zur Weißglut: Drängende Wohnungsnot in den Ballungsräumen? Ach, machen wir doch mal einen Wohnungs-Gipfel. Was kommt dabei heraus? Nicht viel, jedenfalls dürfen die geplagten Mieter in den nächsten Jahren nicht auf eine spürbare Entlastung hoffen. Rückstand bei der Ausstattung mit schnellem Internet? Ach, machen wir doch mal einen Digital-Gipfel. Was kommt dabei heraus? Nicht viel, Deutschland wird in puncto Digitalisierung weiter hinterherhinken. Betrug der Autobauer bei den Diesel-Abgasen? Ach, machen wir doch mal einen Diesel-Gipfel. Was kommt dabei heraus? Nicht viel, die Luftqualität in den Städten wird sich nicht so schnell bessern. Zum Ausgleich werden die betrogenen Diesel-Käufer unter gerichtlich verfügten Fahrverboten zu leiden haben. Die eigentlichen Verursacher, sprich die Autobauer, sind alles in allem fein raus. Bei Angela Merkel läuft man ständig wie an eine Gummiwand, unter den Nägeln brennende Probleme bleiben durch ihre faktische Untätigkeit ungelöst. Sie konnte das lange geschickt überspielen ("Deutschland geht es gut"), doch mittlerweile laufen ihr die Wähler in Scharen davon.

Gewiss, sie ist für die Misere nicht allein verantwortlich, die Konservativen in der Union standen und stehen permanent auf der Bremse. Aber Merkel hat es versäumt, in der Zeit, als sie noch im Zenit ihrer Macht stand, beherzt die Initiative zu ergreifen. Zugegeben, sie hat ihre Partei modernisiert, aber das reicht eben nicht aus, denn im Land gärt es hinter der glänzenden Fassade ungemein. Wer das nicht glauben will besuche bloß mal eine Wohnungsbesichtigung in Frankfurt, Hamburg, Stuttgart oder München - er kommt bestimmt geläutert von dort zurück. Nun neigt sich Merkels Macht dem Ende zu, für große Initiativen fehlt ihr inzwischen die Durchsetzungsfähigkeit. Daher ist es gut, wenn sie endlich geht. Nicht bloß als Parteivorsitzende, sondern auch als Kanzlerin. Wer weiß schon, was später in den Geschichtsbüchern stehen wird? Von den Zeitgenossen in der Regel niemand. Viele empfanden die Ära Helmut Kohl als eine Zeit des Stillstands, aber Stillstand ist in einer Zeit ständiger Veränderungen de facto ein Rückschritt. Vermutlich werden die Historiker die Ära Merkel rückblickend genauso beschreiben.