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08. Februar 2020, von Michael Schöfer
Ein klarer Fall von Scheuklappenperspektive


Bekanntlich lebt jeder in irgendeiner Filterblase, in der er nur mit dem konfrontiert wird, was er eh schon kennt und wovon er ohnehin überzeugt ist. Über den eng begrenzten Tellerrand der eigenen Sphäre hinausblicken, ist bedauerlicherweise unüblich geworden. Beispiel Mike Mohring: Der Noch-Vorsitzende der Thüringer CDU-Landtagsfraktion behauptete allen Ernstes, "dass es in Thüringen bei vielen gut angekommen sei, wie die CDU sich daran beteiligt habe, Bodo Ramelow, den Ministerpräsidenten der Linken, gemeinsam mit der AfD abzuwählen. 'Ich habe in Thüringen in der Bevölkerung und bei Wählern große Zustimmung für unseren Kurs erfahren, den ich verteidigt habe.'" [1]

Die Umfragen vermitteln allerdings ein anderes Bild. Thomas Kemmerich (FDP) wurde am 5. Februar von FDP, CDU und AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gewählt. Im Januar kam dort die CDU bei der Sonntagsfrage (wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl wäre…) auf 19 Prozent, in der Umfrage vom 7. Februar jedoch bloß noch auf 12 Prozent. Und die Linke ist spiegelbildlich von 32 auf 37 Prozent gestiegen. [2] Zwischen der großen Zustimmung, die der CDU-Politiker Mohring für das Handeln seiner Landespartei verspürt haben will, und dem Absturz in den Umfragen besteht offenkundig eine erhebliche Diskrepanz. Es stellt sich daher unweigerlich die Frage, wer da konkret zur Meinungsbildung von Mike Mohring beigetragen hat. Die Bevölkerung und die Wähler können es jedenfalls nicht gewesen sein.

Im Nachhinein absolut unverständliche Handlungen gibt es nicht nur in der Politik. Beispiel Hans-Joachim Frey: Der Kulturmanager ist, neben vielen anderen Aktivitäten, Gründer und 1. Vorsitzender sowie Künstlerischer Gesamtleiter des Semperopernballs in Dresden. Der ägyptische Präsident Abd al-Fattah as-Sisi bekam in Kairo von Frey höchstpersönlich den St. Georgs Orden überreicht. Begründet wurde die Verleihung mit as-Sisis Rolle als "Stabilitäts- und Friedensfaktor in der Region". Dass man as-Sisi aus gutem Grund als Diktator bezeichnen darf, hat der Kulturmensch Frey offensichtlich komplett ausgeblendet. Seit dem Amtsantritt des früheren Generals hat sich die Menschenrechtslage im Land kontinuierlich verschlechtert, beklagt etwa die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: Polizei und Militär wenden exzessive Gewalt an, in den Gefängnissen wird systematisch gefoltert, viele sind jahrelang ohne Anklage und Urteil inhaftiert, es herrscht strikte Presse- und Internetzensur. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Ägypten lediglich auf Rang 163 (von insgesamt 180). "How dare you?", möchte man Frey angesichts dessen zurufen.

Nach heftigen Protesten, u.a. lehnte die Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers die Moderation des diesjährigen Semperopernballs ab, ist plötzlich auch Hans-Joachim Frey die Unwürdigkeit des Preisträgers aufgefallen. Aus eigenem Antrieb wäre er wohl nie darauf gekommen. Der Semperopernball stehe für Weltoffenheit und Toleranz, korrigierte MDR-Unterhaltungschef Peter Dreckmann und versuchte so zu retten, was nicht mehr zu retten war. Schlussendlich wurde die Verleihung des St.-Georgs-Ordens rückgängig gemacht, nachträglich distanzierte und entschuldigte sich Frey, die Verleihung sei ein Fehler gewesen. Da fragt man sich echt, in welcher Blase Kulturmenschen wie er leben. Wirklich noch nie etwas von den gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Ägypten gehört? Sieht er sich im Fernsehen nie die Nachrichten an? Wirft er in der Tageszeitung keinen einzigen Blick über den Tellerrand des Feuilletons hinaus? Es ist unglaublich.

Gewiss, im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber die eigentliche Crux ist, dass erstaunlich viele das nicht schon vorher merken. Christian Hirte (CDU), Ost-Beauftragter der Bundesregierung und gebürtiger Thüringer, gratulierte Thomas Kemmerich (FDP) per Twitter zu seiner Wahl als Ministerpräsident von AfD-Gnaden: "Deine Wahl als Kandidat der Mitte zeigt noch einmal, dass die Thüringer RotRotGrün abgewählt haben." [3] Dass es in der CDU seit 2018 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gibt, der Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt? So what? Hauptsache gegen RotRotGrün! Die völlige Abwesenheit jeglichen politischen Gespürs, kein nüchternes Abwägen von Fakten, stattdessen nur plumpes Schwarz-Weiß-Denken und irrationale Ablehnung des politischen Gegners. Ein klarer Fall von Scheuklappenperspektive. Was hat bei Hirte bloß zu dieser erschreckenden Verblendung geführt? Und warum macht ausgerechnet so jemand Karriere?

Wohin diese Sichtweise führen kann, erleben wir derzeit in den USA, wo sich die politischen Gegner unversöhnlich gegenüberstehen. Aus Gegnern sind Feinde geworden, die Eiferer pflügen momentan das gesamte Land um. Gehandelt wird dort nur noch nach dem Motto: "Right or wrong - my Party!" (Richtig oder falsch - meine Partei!) Zeiten, die für den Machtmissbrauch der jeweiligen Majorität perfekt geeignet sind, weil das System der gegenseitigen Machtkontrolle versagt. Jeder sieht bloß noch den eigenen Teilbereich, das Wohl des Ganzen wird konsequent ausgeblendet. Am Ende kann das zum Kollaps der Demokratie führen. In den Geschichtsbüchern steht, was wir danach zu erwarten haben.

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[1] Süddeutsche vom 08.02.2020
[2] Wahlrecht.de, Umfragen Thüringen
[3] Twitter, Christian Hirte