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26. Juli 2020, von Michael Schöfer
Eine künstlich erzeugte Empörungswelle


Politiker klagen ständig darüber, dass die Zeiten immer aufgeregter würden. Was sie freilich nicht wahrhaben wollen, ist, in welchem Ausmaß sie selbst zu der von ihnen beklagten Aufregung beitragen. Nach der Randale in Stuttgart standen auch die Krawalle auf dem Frankfurter Opernplatz im Fokus der Öffentlichkeit. Unschöne Szenen, über die viele erstaunt waren. Doch es ist schwer, sinnvolle Ursachenforschung zu betreiben und eine daraus resultierende Präventionsstrategie zu entwerfen, wenn das Ganze fortwährend emotional aufgeheizt wird.

Der Frankfurter Polizeipräsident Gerhard Bereswill hat der NZZ ein Interview gegeben.

Frage: "Welche Rolle spielt der deutsche Staat bei dem, was in Ihrer Stadt und auch in Stuttgart passiert ist? Hat er versagt? Wenn ja, wo?"

Antwort: "Ich denke, das hat zunächst etwas mit Corona zu tun. In normalen Zeiten haben wir Klubs, Gaststätten, Cafés und Kneipen. Wir haben Veranstaltungen und kulturelle Angebote. Das meiste davon ist weggefallen. Als es im Frühjahr losging, war das noch unproblematisch, weil es draussen kühler war und die Menschen zu Hause geblieben sind. Jetzt ist das anders. Der Unterschied zur Zeit vor Corona ist die fehlende Infrastruktur. Es gibt an den öffentlichen Plätzen, an denen die Menschen jetzt zusammenkommen, keine Abfallkonzepte, es gibt keine Sicherheitskonzepte. Darum geht es, nicht um staatliches Versagen."

Nachfrage der Redaktion: "Verstehe ich Sie richtig: Geschlossene Klubs und fehlende Mülleimer sind der Grund dafür, dass Leute Steine und Flaschen auf Polizeibeamte werfen?"

Antwort: "Nein, aber es war ein Faktor." [1]

So weit, so gut. Der von den Krawallen keineswegs unbeeindruckte Bereswill vermeidet es, durch einfache Schuldzuweisungen Stimmung zu machen und hebt sich dadurch wohltuend von den Äußerungen seines Stuttgarter Amtskollegen Franz Lutz ab ("schwäbisch hören Sie da wenig"). Während in Stuttgart primär über den Migrationshintergrund der Tatverdächtigen gesprochen wurde, sagt Bereswill, der Migrationshintergrund spiele "sicher eine Rolle", aber er stehe "nicht im Vordergrund". Das ist eigentlich genau das, was man von einem Polizeipräsidenten erwartet: Abgeklärtheit, rationale Herangehensweise, unvoreingenommene Analyse. Dass er daraufhin von Innenminister Peter Beuth (CDU) entlassen worden wäre, ist mir nicht zu Ohren gekommen. Anscheinend ist Bereswill noch im Amt.

Im Gegensatz dazu erzeugen Beuths Parteifreunde gerade eine Empörungswelle, die sich gegen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) richtet und auf der sie ausgiebig herumreiten. Was ist der Grund? Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin rief in der Debatte über Gewaltausbrüche in Großstädten zur Besonnenheit auf: "Es ist wichtig, dass die Polizei in solchen Fällen präsent ist, und sie sollte den Weg der Deeskalation gehen. (…) Es geht ja vor allem um eine Gruppe von Menschen, die unzufrieden sind, weil sie wegen Corona nicht feiern können. Da hat sich Frust angestaut und auch Hass auf Behörden und die sogenannte Obrigkeit." [2] Im Grunde sagt sie nichts anderes als der Frankfurter Polizeipräsident: Es hat etwas mit Corona zu tun. Doch den CDU-Politikern genügt schon allein das, um sich extrem aufzuregen. Wohlgemerkt, sie empören sich nicht über Bereswill, sondern über Dreyer.

Der rheinland-pfälzische Oppositionsführer Christian Baldauf (CDU) sagte der Bild-Zeitung: "Ich bin erschüttert über die Äußerungen von Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Die Polizisten haben unsere Wertschätzung und Rückendeckung verdient! Es kann nicht sein, dass durch Politiker der Eindruck erweckt wird, man müsse den Bürger vor der Polizei schützen. Es haben doch nicht die Einsatzkräfte mit Flaschen geworfen und Innenstädte auseinandergenommen!" [3]

"Ich glaub, ich spinne: Ministerpräsidentin #Dreyer fordert die Polizei zur Zurückhaltung bei Krawallen wie in #Stuttgart oder #Frankfurt auf. Als ob die Polizistinnen und Polizisten Flaschen geworfen und Innenstädte auseinander genommen hätten", twitterte der CDU-Bundestagsabgeordnete Johannes Steiniger. [4]

Auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hält sich nicht zurück: "Wir müssen der #Polizei den Rücken stärken statt ihr mit uneindeutigen Äußerungen in den Rücken zu fallen. Diese permanente Zurechtweisung der Polizei durch die #SPD und Frau #Dreyer muss endlich aufhören." [5]

Die künstlich erzeugte Empörungswelle ist offenkundig orchestriert, das sieht man schon an den fast deckungsgleichen Formulierungen: "Es haben doch nicht die Einsatzkräfte mit Flaschen geworfen und Innenstädte auseinandergenommen!" (Christian Baldauf) und "Als ob die Polizistinnen und Polizisten Flaschen geworfen und Innenstädte auseinander genommen hätten" (Johannes Steininger). Das ist keine Überraschung: Baldauf vertritt im Landtag den Wahlkreis Frankenthal, Steininger ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Neustadt-Speyer - das liegt beides recht nah beieinander in der Pfalz. Man kennt sich, man kommuniziert miteinander.

Dass Malu Dreyer "mehr Verständnis für die Krawallbrüder als Rückendeckung für die Polizei" gezeigt habe, ist natürlich eine böswillige Unterstellung. Mit welchen Worten ist Dreyer der Polizei konkret in den Rücken gefallen? Das könnten Baldauf & Co. kaum detailliert darlegen, sie verzichten deshalb auch darauf. Aber Hauptsache, sie haben die Stimmung angeheizt. Aus "die Polizei sollte den Weg der Deeskalation gehen" wird flugs eine Dolchstoßlegende fabriziert. Vermutlich bauen sie darauf, dass die Menschen immer öfter nur die Überschriften und seltener den ganzen Zeitungsartikel lesen. Vielleicht haben Baldauf & Co. in der WAZ ebenfalls bloß die Überschrift gelesen, ihre Wortmeldungen hinterlassen jedenfalls diesen Eindruck.

Zu was außer Deeskalation soll denn bitteschön die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin aufrufen? Soll sie, wie Donald Trump in den USA, angesichts der ohnehin gereizten Stimmung noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen? Das wäre zwar verrückt, aber offenbar ganz im Sinne der CDU. Chaotische Zustände herbeireden, um sich anschließend noch mehr aufzuregen. Erwartungsgemäß sind die CDU-Politiker bloß über die SPD-Politikerin entsetzt, in Bezug auf die nahezu gleichlautenden Äußerungen des Frankfurter Polizeipräsidenten herrscht bei ihnen allerdings Funkstille. Letztere passen wohl nicht so recht ins Konzept der CDU. Wenn der Polizeipräsident in seiner Analyse zum gleichen Ergebnis kommt wie die Ministerpräsidentin, könnte es für die selbsternannten Polizeifreunde peinlich werden und sie stünden womöglich blamiert da. Deshalb wird über das Interview in der NZZ nachsichtig der Mantel des Schweigens ausgebreitet.

Übrigens, Ende 2018 wird Johannes Steininger in einem Interview gefragt: "Welche Schuld tragen die Politik und die herkömmlichen Medien daran, dass viele Menschen nicht mehr wissen, was Sie glauben sollen?" Antwort: "Ganz klar tragen auch die Medien zu der Empörungsspirale bei. Das hat mit dem Druck durch sinkende Auflagen und Einschaltquoten zu tun und mit der allgemein immer niedrigeren Aufmerksamkeitsspanne. Die Überschriften werden sensationeller, die Texte und Kommentare kürzer und pointierter. Da ist eine sorgfältige Auseinandersetzung mit Themen und Fakten schon herausfordernd." Auch Politiker würden "durchaus Verantwortung für den Vertrauensverlust" tragen. "Aber ganz klar gesagt: Für mich selbst und für ganz viele engagierte Kollegen würde ich das nicht so annehmen." [6] Logisch, schuld sind immer nur die anderen. Wie sorgfältig sich Steininger mit Themen und Fakten auseinandersetzt, sieht man ja an seiner Reaktion auf die keineswegs falsche Äußerung von Dreyer. Aber wenn es einem politisch in den Kram passt, wird die eigene Einsicht gerne hintangestellt.

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[1] Neue Zürcher Zeitung-Online vom 25.07.2020
[2] WAZ vom 25.07.2020
[3] Bild.de vom 26.07.2020
[4] Twitter, @JoSteiniger, Tweet vom 25.07.2020
[5] Twitter, @PaulZiemiak, Tweet vom 25.07.2020
[6] t-online vom 19.12.2018