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10. April 2021, von Michael Schöfer
Lieber mit einer waidwunden CDU


Natürlich waren in Baden-Württemberg die Befürworter einer Ampel-Regierung (Grün-Rot-Gelb) zunächst enttäuscht, als Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ankündigte, die Koalition mit der CDU fortsetzen zu wollen. Ausgerechnet mit dieser traditionell stockkonservativen CDU, die sich in den vergangenen fünf Jahren in puncto Klimaschutz vor allem als Bremser profiliert hat? "Die Verteufelung des Verbrennungsmotors  machen wir nicht mit", steht auch jetzt noch auf der Website der CDU-Landtagsfraktion. Ja, genau mit dieser.

Bislang fielen im Ländle die Erfolge beim Klimaschutz recht bescheiden aus: So sollte etwa der Beitrag der Windenergie zur Stromerzeugung bis 2020 auf 10 Prozent steigen - 2019 (aktuellere Daten liegen noch nicht vor) waren es allerdings bloß 5,3 Prozent. Zwischen 2018 und 2020 kamen gerade einmal zehn Windkraftanlagen neu hinzu, jetzt sind es insgesamt 735. Ursprünglich strebte die erste grün-geführte Landesregierung 1.200 Windkraftanlagen an, das hat offenkundig nicht geklappt. Ebenso wenig die Reduzierung der Treibhausgase. Dem Landes-Klimaschutzgesetz zufolge sollten die Treibhausgasemissionen (Kohlendioxid, Methan, Lachgas) bis 2020 im Vergleich zu 1990 um mindestens 25 Prozent sinken - tatsächlich erreichte man lediglich ein Minus von 19,7 Prozent (Stand 2019). Baden-Württemberg Vorreiter beim Klimaschutz? Momentan eher nicht.

Doch nun soll alles anders werden - jedenfalls wenn man dem siebenseitigen Sondierungsergebnis von Bündnis 90/Die Grünen und CDU Glauben schenkt. Die Koalitionspartner in spe haben u.a. Folgendes vereinbart: Sie wollen sich mit voller Kraft auf den Weg zum klimaneutralen Baden-Württemberg machen, dazu sollen 1.000 neue Windkraftanlagen entstehen. Auch die Einführung einer Solarpflicht für den Photovoltaikausbau auf Gebäuden wurde vereinbart. Insgesamt trägt das Papier deutlich erkennbar eine grüne Handschrift. Die CDU hingegen war bereit, für die erneute Regierungsbeteiligung ziemlich viele Kröten zu schlucken. Lehnte sie etwa in der Vergangenheit die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte oder eine Änderung des Landtagswahlrechts strikt ab (die CDU-Fraktion stimmte 2018 trotz Koalitionsvereinbarung einstimmig gegen eine Reform), kommt nun genau das: Die Einführung der anonymisierten Kennzeichnungspflicht für geschlossene Einheiten der Polizei und die Einführung eines personalisierten Verhältniswahlrechts mit einer geschlossenen Landesliste sowie die Absenkung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre. [1]

"Die CDU hat ihre Seele verkauft!", wetterte daraufhin Hans-Ulrich Rülke, der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion. "Was hier an wesentlichen Ergebnissen bekannt wird, kommt für die CDU einer Bankrotterklärung der eigenen Identität gleich. Die FDP hätte sich niemals derartig selbst verleugnet." [2] Angesichts dieser harschen Reaktion ahnt man, zu welch harten Konflikten es in einer Ampel-Koalition gekommen wäre. Mit dem selbstbewussten und (gelegentlich zu) kämpferischen Rülke wäre das Regieren aus der Sicht der Grünen wahrscheinlich viel unbequemer gewesen, als es nun voraussichtlich mit einer aufgrund des desaströsen Landtagswahlergebnisses waidwunden CDU sein wird.

Inwieweit sich das Ergebnis der Sondierung auch im noch auszuformulierenden Koalitionsvertrag und danach in der Regierungspraxis wiederfindet, bleibt freilich abzuwarten. Ebenso, ob sich die personell ausgezehrte CDU in den nächsten fünf Jahren erfolgreich regenerieren kann. Meine Prognose: Winfried Kretschmann wird spätestens nach der Hälfte der Legislaturperiode zurücktreten und den Weg für eine Nachfolgerin/einen Nachfolger freimachen. Die Aussichten, den Übergang erfolgreich zu organisieren und damit die Grundlage für einen Wahlsieg im Jahr 2026 zu legen, scheinen momentan recht günstig zu sein. Doch bis dahin fließt noch viel Wasser den Neckar hinunter.

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[1] Die Grünen Baden-Württemberg, Sondierungsergebnis, PDF-Datei mit 304 KB
[2] FDP-Landtagsfraktion, Pressemitteilung vom 06.04.2021