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14. August 2021, von Michael Schöfer
Viel Zeit bleibt nicht, um umzusteuern


Es ist schon erstaunlich, wie viel Energie und Phantasie investiert wird, um den von Menschen verursachten Klimawandel und dessen voraussichtliche Folgen zu verharmlosen oder sogar ganz zu leugnen. Doch den Fakten wird sich auf Dauer keiner mehr entziehen können, denn es wird unzweifelhaft wärmer - ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Dem Thermometer ist unsere Haltung vollkommen egal. Eine weithin unterschätzte Folge des Klimawandels ist der Anstieg des Meeresspiegels, der aus dem Schmelzen der Eismassen (Grönland, Antarktis, Gebirgsgletscher) resultiert. In China, liest man oft, interessiere sich niemand dafür, dass die Deutschen den Klimawandel aufhalten wollen. Doch Ignoranz kann für uns kein Vorbild sein. Außerdem sollten sich gerade die Menschen in China dafür interessieren, wie sich das Klima verändert, denn sie sind mit am stärksten davon betroffen.

"Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in tief liegenden Küstenregionen - die meisten davon in Asien." Und in China leben 10 Prozent der Bevölkerung in niedrig gelegenen Küstenregionen. [1] "Die Weltbevölkerung wird laut UN-Prognose bis zum Jahr 2050 auf insgesamt fast zehn Milliarden ansteigen. Gemeinsam mit dem Trend zur Urbanisierung wird dies ein besonders schnelles Wachstum der globalen Megacitys erzeugen - 2050 werden dort 22 Prozent aller Menschen leben. Und dort sind sie besonders gefährdet. Heute schon liegen über 62 Prozent der Städte mit mehr als acht Millionen Einwohnern an der Küste." [2] Ein starker Anstieg des Meeresspiegels wird daher unweigerlich gravierende Folgen haben. So liegt etwa die chinesische Millionenstadt Shanghai mit ihren 25,6 Mio. Einwohnern im Schnitt nur vier Meter über NHN (Normalhöhennull).


Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte: Wie klein der Eiffelturm gegenüber
dem Eisverlust in Grönland und der Antarktis ist

"In Grönland und der Antarktis schmelzen jedes Jahr 400 Milliarden Tonnen Eis. 'Wenn man die in einen Würfel gießen könnte, dann wäre das ein Eiswürfel der Größe sieben mal sieben mal sieben Kilometer', sagt Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie. (…) Niedrig geschätzte Szenarien gingen davon aus, dass es bis zum Ende des Jahrhunderts einen globalen Meeresspiegelanstieg von 30 bis 60 Zentimeter geben werde, pessimistischere Szenarien gingen von einem Meeresspiegelanstieg zwischen 60 Zentimetern und einem Meter aus." [3] Wobei man angesichts des beobachteten Verlaufs momentan eher von den pessimistischen Szenarien ausgehen muss.

Der aktuelle Sachstandsbericht des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) macht leider wenig Hoffnung, dass wir das 1,5 Grad-Ziel tatsächlich erreichen. Die Wissenschaftler rechnen mit einer realistischen Erwärmung von 2 Grad bis 2050 und 2,7 Grad bis 2100, es könnten aber durchaus auch 1,8 bzw. 3,6 Grad sein. Bei weiterhin anhaltend hohen Treibhausgasemissionen rechnen sie mit einem Meeresspiegelanstieg von 2 Metern bis 2100 und von 5 Metern bis 2150. "Im Extremfall, bei kaum gebremsten Emissionen und bis zu fünf Grad langfristiger Erwärmung, könnten es bis zu 22 Meter sein." [4] Kommt es wirklich so schlimm, ist Shanghai spätestens 2150 von der Landkarte getilgt. Wohin werden die Einwohner der Stadt fliehen, von was wollen sie in Zukunft leben? In Deutschland würde die Nordseeküste in dem Fall ungefähr auf der Höhe von Seehausen in der Altmark (Sachsen-Anhalt) verlaufen - heute 230 km Luftlinie von der Nordsee entfernt.


[Grundkarte von OpenStreetMap, CC BY-SA 2.0
Markierung, Text und Pfeile durch den Autor eingefügt]

Dürren, Flutkatastrophen, Starkregen, Hitzeperioden, Ernteausfälle, Waldbrände, Kollaps von Meeresströmungen, Stürme - die Folgen des Klimawandels sind ebenso dramatisch wie vielfältig. Der Anstieg des Meeresspiegels ist dabei nur ein Aspekt. Viel Zeit bleibt nicht, um umzusteuern und die Folgen zu begrenzen. Ignoranz und Untätigkeit können wir uns einfach nicht mehr leisten. Tun wir nichts oder nicht genug, werden sich die Lebensverhältnisse der gesamten Menschheit drastisch ändern - und das sicherlich nicht zum Guten. Es geht letztlich um die Existenz des Homo sapiens.

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[1] world ocean review, Der Kampf um den Lebensraum Küste
[2] Heinrich Böll Stiftung, Küsten: Leben in der Risikozone
[3] Deutschlandfunk vom 10.08.2021
[4] Süddeutsche vom 09.08.2021