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21. Mai 2022, von Michael Schöfer
Warum brauchen wir immer so lang, um zu reagieren?


Der Homo sapiens ist bekanntlich oft weniger sapiens (weise), als man sich wünschen sollte. Das haben schon viele bedauert. "Neue Ideen werden erst belächelt, dann erbittert bekämpft, und wenn sie sich durchgesetzt haben, waren alle schon immer dafür", hat dazu etwa der Philosoph Arthur Schopenhauer gesagt. In abgewandelter Form finden wir diese bittere Erkenntnis auch bei Mark Twain: "Jemand mit einer neuen Idee gilt so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat." Anders ausgedrückt: Ziemlich dumm, dieser Homo sapiens.

Das erleben wir leider immer wieder aufs Neue. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine soll sich Westeuropa energiepolitisch umorientieren, man will vom Kriegsverbrecher Putin künftig weder abhängig sein noch seine Kriegskasse weiterhin mit Devisen füllen. Plötzlich rufen alle nach der Solar-/Wasserstoffwirtschaft. Ganz so, als sei dies eine brandneue Idee.

"Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern", schrieb ein gewisser Jules Verne in seinem 1875 erschienenen Roman "Die geheimnisvolle Insel". Na ja, Literatur, mögen da manche abwertend denken. Machen wir deshalb einen Sprung in die jüngere Vergangenheit, und zwar zum 2010 viel zu früh verstorbenen SPD-Politiker Hermann Scheer. 1987 erschien das von ihm herausgegebene Buch "Die gespeicherte Sonne. Wasserstoff als Lösung des Energie- und Umweltproblems".

Ein Rezensent schrieb damals im Deutschen Ärzteblatt: "Die Autoren stellen unterschiedliche Konzepte zur Nutzung der Sonnenenergie vor. (…) Das Ziel ist in allen Fällen die großtechnische Nutzung, die einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung mit Energie bis hin zur vollständigen Substitution der bisherigen Energiesysteme führen soll. Die Sonnenenergie soll deshalb nicht nur elektrischen Strom liefern, sondern auch zur Erzeugung von solarem Wasserstoff genutzt werden. Wasserstoff als gespeicherte Sonnenenergie soll unsere gasförmigen, flüssigen und festen Brennstoffe und Kraftstoffe, deren Verfügbarkeit langfristig nicht gesichert ist, ablösen. (…) Die Autoren machen allerdings auch klar, daß die Entwicklung und Einführung der Solar- und Wasserstofftechnologie einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird und daß zunächst große Investitionen erforderlich sein werden. Wenn also die Substitution der bisherigen Energieträger durch Solarenergie im Laufe des nächsten Jahrhunderts erfolgen sollte, dann müßten die Weichen heute gestellt werden." [1]

Schon vor 35 Jahren war alles Notwendige vorhanden: die Erkenntnis, die Vision, die Technik - es hat halt bloß am politischen Willen gefehlt. Die Erneuerbaren könnten nie die fossilen Brennstoffe ersetzen, hieß es seinerzeit in den Gazetten. Politiker wie Hermann Scheer wurden als Utopisten, Träumer, messianische Weltenretter und selbsternannte Sonnenkönige lächerlich gemacht, man wähnte Deutschland sogar auf dem Weg in die Ökodiktatur, sollten sie sich durchsetzen. Heute hört sich das unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklung ganz anders an: "'Ein zeitnaher und erfolgreicher Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft wird immer dringlicher', sagt BDEW-Chefin Kerstin Andreae. Nötig sei nun 'ein mutiger Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft'." [2] Plötzlich ist die Solar-/Wasserstoffwirtschaft (= grüner Wasserstoff) selbst bei der CDU en vogue - ganz so, als habe man das schon immer gefordert. Schopenhauer lässt grüßen.

Auch hier begegnet uns die alte Erkenntnis: Je später man neue Ideen aufgreift, desto teurer und zeitkritischer wird ihre Realisierung. Hätte man sich schon in den neunziger Jahren mit Verve auf den Weg in die Solar-/Wasserstoffwirtschaft gemacht, würden wir heute kein Wort mehr über russisches Erdgas verlieren. Dann hätten wir 30 Jahre Zeit für einen vergleichsweise sanften Umbau gehabt, anstatt jetzt innerhalb von wenigen Jahren das Versäumte nachholen zu müssen und dabei auch noch schwere ökonomische Verwerfungen zu riskieren. Ja, es stimmt: ziemlich dumm, dieser Homo sapiens.

Den gleichen Fehler begehen wir beim vom Menschen verursachten Klimawandel und dem Artensterben. Die Amerikanerin Eunice Newton Foote (1819-1888) hat als "weltweit erste Forscherin, (...) einen direkten Zusammenhang zwischen der Kohlenstoffdioxid-Konzentration in der Luft und der Erwärmung der Erdatmosphäre" erkannt. [3] Und das bereits 1856. Svante Arrhenius (1859-1927) wiederum "erkannte, dass der Mensch das Klima auf der Erde durch das Verbrennen fossiler Rohstoffe wie Kohle und Öl aktiv beeinflusst. Bereits 1896 sagte er eine globale Erwärmung aufgrund des steigenden CO2-Gehalts in der Atmosphäre voraus." [4] Und jetzt schlagen wir uns mit Hitzewellen, Dürren, Starkregen, orkanartigen Stürmen, dem Abschmelzen der Eispanzer sowie großflächigen Waldbränden herum. Warum brauchen wir eigentlich immer so lang, um zu reagieren?

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[1] aerzteblatt.de, Deutsches Ärzteblatt vom 10.12.1987
[2] Süddeutsche vom 17.05.2022
[3] Wikipedia, Eunice Newton Foote
[4] EnergieWinde vom 31.12.2020