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18. Oktober 2022, von Michael Schöfer
Putin hat die Falle selbst aufgestellt


"Ich wusste, dass Putin etwas tun wird, das der Ukraine nicht gut tun wird", sagte Altbundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Juni im Gespräch mit dem Journalisten Alexander Osang. [1] Warum sie Deutschland dann trotzdem mit Nord Stream 1 und 2 in die fatale Gasabhängigkeit von Russland geführt hat, blieb allerdings unbeantwortet. Vor kurzem schob sie erläuternd nach, es sei wegen der von Deutschland angestrebten Energiewende "aus der damaligen Perspektive (...) sehr rational und nachvollziehbar [gewesen], leitungsgebundenes Gas auch aus Russland zu beziehen, das billiger war als das LNG (Flüssiggas) aus anderen Gegenden der Welt - USA, Saudi-Arabien, Katar." Und "man handelt ja immer in der Zeit, in der man ist. Selbst im Kalten Krieg war Russland ein verlässlicher Energielieferant. Ich habe nie daran geglaubt, dass es so was gibt wie Wandel durch Handel, aber durchaus Verbindung durch Handel. Und insofern bereue ich Entscheidungen überhaupt nicht, sondern glaube, dass es aus der damaligen Perspektive richtig war." [2] Soll heißen: Hinterher ist man eben immer klüger. Demgegenüber beteuert Olaf Scholz, er sei sich immer sicher gewesen, dass Putin die russischen Energie-Lieferungen "auch als Waffe nutzt". [3] Das geneigte Publikum nimmt es mit Erstaunen zur Kenntnis.

Wer freilich nach eigenem Bekunden das Unglück der Ukraine kommen sah bzw. sich der Brisanz der Energieabhängigkeit bewusst war, hätte ökonomische Gesichtspunkte hintanstellen müssen. Politik ist ja stets ein Abwägungsprozess, aber diese Abwägung damals falsch getroffen zu haben, müssen sich Angela Merkel und Olaf Scholz vorwerfen lassen. Erst recht, weil es diesbezüglich entsprechende Warnungen gab. Nord Stream 2 sei "auch ein geopolitisches" und kein "rein kommerzielles" Projekt. "Bekanntlich handelt es sich bei Gazprom um einen Staatskonzern, der Energielieferungen auch in der Vergangenheit schon als politisches Druckmittel gegenüber Nachbarländern instrumentalisiert hat. Die Pipeline vergrößert hierfür die Möglichkeiten." [4] "Aus EU-Sicht schließlich vergrößert Nord Stream 2 die Abhängigkeit von russischen Energieexporten und gefährdet die geplante Energieunion. Die Brüsseler Wettbewerbshüter äußern Bedenken, denn das neue Projekt würde die Vormachtstellung der russischen Gazprom verstärken. (…) Vor allem Polen und die baltischen Staaten sorgen sich, dass die russische Regierung nicht vor wirtschaftlichen Nachteilen und politischem Gesichtsverlust zurückscheut, wenn es um ihre strategischen Interessen geht." [5] Die Große Koalition aus Union und SPD hat diese Warnungen aber wissentlich ignoriert und hartnäckig als irrelevant abgetan. Warum?

Nicht zu Unrecht weist Angela Merkel darauf hin, dass ihre diplomatischen Bemühungen (Minsk II-Abkommen) nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der von Russland militärisch unterstützten Rebellion prorussischer Separatisten im Donbas der Ukraine Zeit verschafft haben, ihre Widerstandskraft zu stärken. Zeit hat sie der Ukraine zweifellos verschafft, indes nichts zur militärischen Widerstandskraft beigetragen, denn Waffenlieferungen an die Ukraine hat die Regierung Merkel bis zuletzt kategorisch abgelehnt. Ihr Nachfolger Olaf Scholz sogar noch nach Kriegsbeginn (24.02.2022), wir erinnern uns an die berühmt-berüchtigten 5000 Helme. Militärische Unterstützung überließen die Europäer großzügigerweise den Vereinigten Staaten, die damit schon 2015 begannen. [6] Wir waren extrem schlecht auf den sich - dem Eingeständnis der Regierenden zufolge - bereits am Horizont abzeichnenden Konflikt vorbereitet.

Ohne den Willen und Tatkraft der Amerikaner, denen offenbar frühzeitig klar gewesen ist, dass es ungeachtet der diplomatischen Bemühungen Frankreichs und Deutschlands auf einen größeren bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hinauslaufen würde, stünden Putins Truppen jetzt wahrscheinlich an der Grenze zu Polen. Ganz uneigennützig ist das natürlich nicht, denn die USA denken seit dem Zweiten Weltkrieg naturgemäß in geopolitischen Kategorien. Und nichts kommt dabei gelegener als die Schwächung eines geopolitischen Rivalen. Insbesondere, wenn dieser auch noch bereitwillig in die Grube fällt, die er selbst gegraben hat.

Ist der Ukraine-Krieg ein Stellvertreter-Krieg des Westens gegen Russland? Selbstverständlich, aber der Kremlherrscher wurde zu nichts gezwungen, schon gar nicht zu einem Angriffskrieg, vielmehr haben Putins großrussische Ideologie und seine Reminiszenz an die Sowjetunion dafür den Boden bereitet. Von der eklatanten Selbstüberschätzung seiner Fähigkeiten als Stratege und den realen Handlungsmöglichkeiten der russischen Armee ganz zu schweigen. Ergo darf er sich nicht darüber beklagen, wenn andere daraufhin ihre eigenen geopolitischen Ziele verfolgen. Putin hat sich die Folgen seines Handelns selbst zuzuschreiben. Ein abweichender historischer Verlauf wäre denkbar gewesen, aber der russische Präsident hat ein partnerschaftliches Verhältnis mit dem Westen und die gesellschaftliche Weiterentwicklung seines Landes mit Absicht vereitelt, was spätestens mit seiner Brandrede auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 deutlich wurde.

Die Stärkung des militärischen Widerstands der Ukraine und die westlichen Sanktionen gegen Russland haben insofern auch das Ziel, einen geopolitischen Rivalen der USA für geraume Zeit als Player vom Spielfeld zu nehmen. Der andere Rivale, das totalitäre China, folgt danach. Beide zugleich zu bekämpfen, wäre selbst für eine Supermacht wie die USA eine schwer zu bewältigende Herausforderung - vor allem, wenn der geopolitische Großkonflikt durch regionale Auseinandersetzungen angereichert würde. Stichwort: Atomwaffenprogramm des Iran. Es mag zynisch klingen, aber ein koordiniertes Vorgehen der totalitären Systeme Russlands und Chinas (d.h. ein abgestimmter und zeitgleich stattfindender Angriff auf die Ukraine und Taiwan) wäre für den Westen viel ungünstiger gewesen. Insofern kam das Unglück, wenn es schon - da auf dem Willen Putins beruhend - nahezu unvermeidlich war, gerade noch rechtzeitig.

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[1] Der Tagesspiegel vom 08.06.2022
[2] Der Standard vom 14.10.2022
[3] Focus-Online vom 11.10.2022
[4] Robert Sperfeld, Heinrich Böll Stiftung vom 11.06.2018
[5] Anke Schmidt-Felzmann, Internationale Politik, 2/2018
[6] Die Zeit-Online vom 20.04.2015