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22. November 2022, von Michael Schöfer
Maulhelden


Diese Memmen! Wenn man ein Revolutiönchen anleiert, sollte man mit gegnerischem Geschützfeuer rechnen. "Ich bin durchaus bereit, eine Geldstrafe in Kauf zu nehmen", tönte DFB-Präsident Bernd Neuendorf noch vor ein paar Tagen vollmundig. [1] Doch nun ist nicht nur der DFB, sondern sind auch alle anderen europäischen Fußballverbände, die bei der "One-Love"-Aktion mitmachen wollten (England, Niederlande, Belgien, Schweiz, Wales, Dänemark), schmachvoll eingeknickt. Statt Geldstrafen hat die FIFA kurzerhand "sportliche Sanktionen" angedroht, sprich gelbe Karten für die Spieler, die trotz Verbot die in den Augen der FIFA verwerfliche Kapitänsbinde tragen. "Als nationale Verbände können wir unsere Spieler nicht in Situationen bringen, wo sie mit sportlichen Sanktionen wie Verwarnungen rechnen müssen", heißt es jetzt kleinlaut. [2]

Wenn man schon vorher weiß, dass man den Aufstand nicht bis in die allerletzte Konsequenz durchzuziehen bereit ist, wäre Schweigen klüger gewesen. Aber nein, sie zogen es vor, demonstrativ die Backen aufzublasen. Jetzt stehen alle als Maulhelden da. Und das zu Recht. Welch ein erbärmliches Bild. Wohlgemerkt, das gilt für die beteiligten Verbände und insbesondere für diesen schäbigen Fußballweltverband. Wie hätte FIFA-Präsident Gianni Infantino reagiert, wenn die Europäer damit gedroht hätten, im Falle eines Verbots unverzüglich die Heimreise anzutreten? Eine Fußballweltmeisterschaft ohne die europäischen Fußballverbände wäre sicherlich nur noch von höchst zweifelhaftem Wert gewesen. Und für Katar ein furchtbarer propagandistischer Rohrkrepierer. Unter Umständen hätten sich sogar Sponsoren und Werbepartner dem Boykott angeschlossen, von den übertragenden Fernsehsendern ganz zu schweigen. Europa mag klein sein, aber dort finden sich in puncto Fußball nach wie vor die zahlungskräftigsten Geldgeber. Würde Infantino auch die verprellen? Doch offenkundig wollte man nicht so weit gehen, das mit großem Aplomb angekündigte Revolutiönchen ist daher kläglich verpufft.

Man hat ohnehin das nicht von der Hand zu weisende Gefühl, dass viele Aktionen der Elitekicker lediglich der PR geschuldet und wohl nicht ganz ernst gemeint sind. Was man halt so tut, um sich der Nation pflichtschuldig als Vorbild zu präsentieren und nebenbei wenigstens ein bisschen die obszönen Spielergehälter zu rechtfertigen. "Ich bemühe mich, die Grundwerte, die ich durch die Erziehung meiner Eltern gelernt habe, zu leben und weiterzugeben. Dazu gehören Fairness, Anstand und Respekt", behauptet beispielsweise Nationaltorhüter Manuel Neuer. [3] Doch gerade dann, wenn es darauf ankommt, entpuppen sich die Elitekicker oft als armselige Heuchler. Wir erinnern uns, WM-Achtelfinale 2010, Deutschland gegen England: Beim Stand von 2:1 für Deutschland schießt der Engländer Frank Lampard in der 38. Spielminute den Ball an die Unterkante der Querlatte, und das Leder landet von dort aus klar hinter der Torlinie. Alle haben es gesehen - bloß das Schiedsrichtergespann aus Uruguay war mit unfassbarer Blindheit geschlagen. [4] Späte Rache für Wembley 1966? Wie dem auch sei, jedenfalls in den Augen des Schiedsrichters kein Tor.

Es wäre fair, anständig und respektvoll gegenüber dem Gegner gewesen, wenn Manuel Neuer anschließend zum Schiedsrichter gegangen wäre und gesagt hätte: "It was a goal." Doch das Gebot der Fairness gilt bei ihm offenbar nur bei PR-Terminen, aber nicht auf dem Spielfeld. Schade, er hätte künftig, ähnlich wie der legendäre "Uns Uwe" (Uwe Seeler), als leuchtendes Vorbild gegolten, über dessen grundanständigen Charakter die Fans noch in 100 Jahren ehrfurchtsvoll gestaunt hätten. Welch ein Sportsmann! Und zugleich wäre damit den Spielern der englischen Nationalelf signalisiert worden: "Wir besiegen euch auch so, dazu brauchen wir keine Schiedsrichtergeschenke." Mithin ein bravouröses Zeichen der Stärke. Aber Neuer entlarvte sich als ein Spieler von eher zweifelhaftem Charakter, der - den großspurigen Verlautbarungen zum Trotz - ungeniert einen nicht gerechtfertigten Vorteil mitnimmt, wenn sich ihm die passende Gelegenheit bietet. Chance zum Sportlerdenkmal leider verpasst.

Gerade beim Sport klaffen Anspruch und Wirklichkeit gewaltig auseinander - sowohl bei den Spielern als auch bei den Verbänden. Auf dem Spielfeld wird angeblich nie getrickst, und jenseits der Seitenauslinie präsentieren sich die Sportfunktionäre stets mit blütenweißer Weste. Wer es glaubt, wird als Sportfan selig. Für andere klingt es geradezu wie Hohn: "Die FIFA bekennt sich zur Einhaltung aller international anerkannten Menschenrechte und setzt sich für den Schutz dieser Rechte ein. Jegliche Diskriminierung eines Landes, einer Einzelperson oder von Personengruppen aufgrund von Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund ist unter Androhung der Suspendierung oder des Ausschlusses verboten." [5] Was allerdings nicht in den FIFA-Statuten steht: Wenn eine Fußball-WM in rückständigen Autokratien wie Katar stattfindet, setzen wir uns nicht ganz so stark für die Menschenrechte und das Diskriminierungsverbot ein, schließlich könnte das den Emir erzürnen.

Fazit: Auf solche selbsternannten Vorbilder und deren Phrasen verzichten wir gerne.

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[1] Sport1 vom 18.11.2022
[2] Stern-Online vom 21.11.2022
[3] Das deutsche Schulportal vom 15.05.2018
[4] Youtube, ab Min. 0:37
[5] FIFA, Statuten, Stand September 2020, Seite 11