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24. März 2023, von Michael Schöfer
Wenn uns schon das viel zu viel ist...


Die Unterstützung für die Ukraine werde nachlassen, liest man jetzt immer öfter. In den USA stehe sie unter Umständen spätestens mit der Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 zur Disposition, weil sich in der Republikanischen Partei die skeptischen Stimmen mehren. Und wie sich ein möglicher Wahlgewinner aus den Reihen der reaktionären GOP nach seiner Amtsübernahme verhalten wird, steht in der Tat in den Sternen. Wladimir Putin braucht vorerst nur bis dahin durchzuhalten, anschließend sieht er weiter. Aber nicht nur in den USA droht die Stimmung zu kippen. Je länger der Krieg dauert, desto stärker dürften sich auch in Europa diejenigen zu Wort melden, die den Krieg selbst dann gerne beenden würden, wenn Kiew dabei Gebietsverluste hinnehmen müsste.

Uns im Westen müsste eigentlich klar sein, dass ein wie auch immer gearteter Sieg Russlands bloß der Anfang ist. Es ist leider das Gleiche wie im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs. Oft wird zu Recht beklagt, die Alliierten hätten Hitler schon bei der Rheinlandbesetzung im Jahr 1936 in den Arm fallen müssen. Oder wenigstens beim "Anschluss" Österreichs im Jahr 1938. Beides verbot bekanntlich der Friedensvertrag von Versailles aus dem Jahr 1919. Und nie und nimmer hätte man dem Diktator im Münchner Abkommen blauäugig das Sudetenland gegen ein unverbindliches Friedensversprechen geben dürfen. Schon gar nicht ohne Beteiligung der Tschechoslowakei. Hitler hat all das nur als Ermutigung auf dem Weg zur Verwirklichung seiner viel umfangreicheren Ziele betrachtet. Mit dem Kriegsausbruch im Jahr 1939 sahen dann letztendlich auch die Vertreter der Appeasementpolitik, wie gigantisch sie sich verkalkuliert hatten.

Putins Weg ist ebenfalls von sich steigernden Aggressionen gegen andere gepflastert: Tschetschenien, Georgien, die Krim, die Ostukraine und am 24. Februar 2022 schließlich das gesamte Land. Von den zahlreichen Mordanschlägen auf Oppositionelle und Journalisten ganz zu schweigen. Bis zuletzt stieß er nur auf zaghaften Widerstand seitens des Westens, der dadurch Putins Kalkül bestätigte und ihn jedes Mal zu noch heftigeren Aggressionen motivierte. Wer garantiert uns, dass er sich mit der Ukraine zufrieden geben wird? Wer bürgt dafür, dass er nicht doch insgeheim von einem russisch dominierten Reich von Wladiwostok bis Lissabon träumt? Diktatoren tendieren gemeinhin zu Unersättlichkeit - gleichgültig wie unrealistisch ihr Ansinnen auch sein mag. Wer sich ein Leben unter russischer Knute vorstellen kann, dürfte jetzt bloß mit den Achseln zucken. Wem indes Freiheit und Menschenrechte wertvoll sind, muss fest an der Seite der Ukraine stehen. So zynisch es klingen mag, die Ukrainer kämpfen auch, damit wir demnächst nicht selbst kämpfen müssen.

Die Süddeutsche Zeitung hat aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Time-Magazins ein Bild veröffentlicht, darauf sind sechs junge Frauen im Juni 1941 lesend auf einer Parkbank zu sehen. Damals waren die USA noch nicht Kriegspartei, sondern offiziell neutral. Fast ganz Westeuropa wurde von Faschisten regiert, die Briten hatten zwar in der Luftschlacht um England gerade erfolgreich ihre Freiheit verteidigt, doch die Welt stand unmittelbar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Letzteres konnten die Frauen bestenfalls ahnen (das Bild wurde zwei Tage vor Beginn der Invasion aufgenommen). "Was geht uns der Krieg in Europa an?", hätten die sechs jungen Frauen denken können. Und seinerzeit dachten das in den USA wohl auch viele. Geholfen hat diese Haltung freilich nicht, denn im Grunde ist man vor nach Weltherrschaft strebenden Kriegsverbrechern an keinem Ort wirklich sicher. Völlig egal, ob man sich heraushält oder einmischt, denn früher oder später treffen sie einen sowieso auf die ein oder andere Art und Weise. Man muss deshalb möglichst früh beginnen, sich gegen sie zu wehren. Wer damit wartet, erhöht lediglich seine eigenen Kosten. Hätten die Alliierten bereits 1936 interveniert, wären ihnen die Opfer, die der Zweite Weltkrieg gekostet hat, möglicherweise erspart geblieben. Ersteres wäre im Vergleich dazu spottbillig gewesen.

Was also mögen diese sechs jungen Frauen damals gedacht haben - mitten im Sommer, scheinbar unbeschwert auf einer sonnigen Parkbank sitzend? Vielleicht lauschten sie dem Zwitschern der Vögel oder haben schüchtern vorbeilaufenden jungen Männern nachgeschaut. Machten sie sich Sorgen um die Zukunft? Sorgen um sich persönlich oder um die Demokratie, in der sie lebten? Waren sie von den Kriegsberichten im Time magazine und in den Tageszeitungen beunruhigt? Oder lagen ihre Interessen ganz woanders, etwa - wie es das Klischee besagt - bei Mode, Schmuck und Kosmetik? Waren sie für oder gegen den Kriegseintritt der USA? Hielten sie es für besser, sich Hitler entschlossen entgegenzustellen oder ängstlich vor ihm zurückzuweichen? Zumindest für eine der jungen Frauen war die Sache klar, denn das Bild zeigt die Amerikanerin Jacqueline Cochran (mit dem Time magazine auf dem Schoß), sie war zu jener Zeit eine der bekanntesten Fliegerinnen der USA. Schon vor dem amerikanischen Kriegseintritt überführte sie Bomber von Amerika nach England. Von 1943 bis Ende 1944 leitete Cochran die Women Airforce Service Pilots (WASP), die innerhalb der USA insgesamt 12.650 Flugzeuge von den Flugzeugfabriken zu den Militärflughäfen überführten. 38 von 1074 Pilotinnen verloren dabei ihr Leben. (Da das Bild in einem Londoner Park aufgenommen wurde, dürften die anderen Frauen Engländerinnen und damit vom Krieg unmittelbar betroffen gewesen sein.)

Der Sieg über Nazi-Deutschland ist auch Frauen wie Jacqueline Cochran zu verdanken. Frauen, die sich aktiv für ihre Werte einsetzten, die aber genauso gut auch passiv auf einer Parkbank im New Yorker Central Park hätten sitzen bleiben können. Niemand hat sie gezwungen. Im Vergleich dazu kostet uns der Ukraine-Krieg bislang nur Geld für die Aufnahme von Flüchtlingen, die Lieferung von Waffen und den Import von teurem Flüssiggas. Obendrein ein bisschen Geduld sowie den Willen, die Sache bis zum hoffentlich guten Ende durchzuhalten. Aber wenn uns schon das viel zu viel ist, hätten wir damals Menschen wie Jacqueline Cochran bestimmt nicht mehr in die Augen schauen können, ohne uns dabei zu mächtig schämen.