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27. April 2023, von Michael Schöfer
Russland darf durchaus hoffen


Ich lese momentan wieder das Buch "August 1914" von Barbara Tuchman, das ich mir exakt vor 30 Jahren zum ersten Mal gekauft und seitdem nie wieder in die Hand genommen habe. Mitunter ist man doch erstaunt, wie der Inhalt eines Buches beim abermaligen Lesen plötzlich eine ganz andere Wirkung entfaltet als beim ersten Mal. Das gleiche Buch, der gleiche Leser, trotzdem erschließt sich mir der Text überraschend anders. Klar, es ist zwischenzeitlich viel passiert, man ist hoffentlich reifer geworden und bestimmte Passagen sagen einem heute mehr, andere dagegen weniger. Gerade vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine gewinnt das Buch aufs Neue an Aktualität, denn die Parallelen sind unverkennbar.

Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ist zwar komplex, aber eines steht zumindest fest: Die Deutschen haben die Kriegshandlungen begonnen und sind ins damals neutrale Luxemburg und ins ebenso neutrale Belgien einmarschiert, obgleich deren Status vom Deutschen Reich gemeinsam mit Österreich, Großbritannien, Frankreich und Russland schriftlich garantiert wurde (seit 1867 bzw. 1830). Verträge sind eben allzu oft das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen. Ziel war die rasche Niederwerfung Frankreichs durch eine militärische Umfassung (Schlieffen-Plan), für die das deutsche Militär Belgien durchqueren musste.

Unerhört: Die Belgier wehrten sich! Deutsche Soldaten verübten daraufhin in Belgien zahlreiche Kriegsverbrechen, äußerst brutal gingen sie gegen die Zivilbevölkerung vor: Am 20. und 21. August 1914 brannten die Deutschen zum Beispiel das Städtchen Andenne nieder und erschossen 211 Einwohner, angeblich hätten die Belgier die deutschen Truppen "in der verräterischsten Weise" angegriffen. In Seilles, am gegenüberliegenden Flussufer der Maas, "wurden fünfzig Zivilisten erschossen und die Häuser für Brand und Raub freigegeben". [1] Auch Aarschot (156 Tote), Tamines (383 Tote) und in Dinant (674 Tote) werden auf Wikipedia namentlich erwähnt. [2]

Großes Entsetzen rief auf der ganzen Welt der Brand von Löwen hervor, dem rund ein Sechstel der Gebäude zum Opfer fiel, darunter die berühmte Bibliothek aus dem 14. Jahrhundert mit 230.000 Bänden, einer einzigartigen Sammlung von 750 mittelalterlichen Handschriften sowie mehr als tausend Werken aus der Frühzeit des Buchdrucks. [3] Unschätzbare Werte - für immer verloren. Alles in allem wurden 6.000 Belgier getötet und 25.000 Gebäude in 837 Gemeinden zerstört. [4] Der preußische Militarismus hat sich seinen schlechten Ruf nicht ohne Grund erworben. Es hätte eigentlich nicht noch des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts bedurft, um weltweit als Pariastaat dazustehen. Umso mehr erstaunt, wie nachsichtig die Sieger mit Deutschland umgegangen sind, insbesondere nach 1945.

In Kriegen barbarische Grausamkeiten zu begehen, ist bedauerlicherweise nicht auf den preußischen Militarismus begrenzt gewesen, Kriegsverbrechen gab und gibt es fast ausnahmslos in allen Konflikten. So haben sich die Franzosen in Algerien genauso wenig mit Ruhm bekleckert wie die Amerikaner in Vietnam oder im Irak. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich dünn, und darunter lugt die zu allen Untaten fähige Primitivität unserer Spezies hervor. Homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Nun hat sich neuerdings Russland unter Wladimir Putin zum Pariastaat entwickelt, was die unfassbaren Kriegsverbrechen in der Ukraine belegen. Das Land hat sich seinen schlechten Ruf ebenfalls redlich verdient.

Gleichwohl gibt es, gerade angesichts der historischen Erfahrung der Deutschen, für Russland durchaus Hoffnung. Unter einer anderen, demokratischen Regierung kann das Land irgendwann einmal wieder ein akzeptiertes Mitglied der Weltgemeinschaft werden und künftig friedlich mit seinen Nachbarn zusammenleben. Es dauert zwar, bis die Narben verheilt sind, aber die Rehabilitierung ist keineswegs für alle Zeit ausgeschlossen. Wir Deutschen haben es selbst erlebt. Doch dazu braucht Russland unbedingt einen Regimewechsel, denn unter Putin und seinen Spießgesellen ist dieser Weg auf ewig verbaut. Und es braucht zweifellos auch eine Abkehr von diesem übersteigerten russischen Nationalismus. Ideologische Verblendung, das wissen wir Deutschen vermutlich am allerbesten, bringt immer nur die schlechtesten Eigenschaften eines Volkes zum Vorschein.

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[1] Barbara Tuchman, Frankfurt a.M. 1993, Seite 331
[2] Wikipedia, Rape of Belgium
[3] Barbara Tuchman, Frankfurt a.M. 1993, Seite 334
[4] Wikipedia, Rape of Belgium