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11. Mai 2023, von Michael Schöfer
Ein Rücktritt wäre keineswegs unangemessen

In puncto Befangenheit gibt es eine juristische und eine ethische Ebene. Wie das juristisch bei einem öffentlichen Unternehmen in Bundeseigentum im Allgemeinen und bei einem Staatssekretär der Bundesregierung im Besonderen konkret aussieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Beamtenrecht gehört nicht zu meinem Fachgebiet, und ich bin auch kein Jurist. Aber ich war in meiner beruflich aktiven Zeit viele Jahre lang freigestellter Personalrat einer Landesbehörde, und dort ist die Befangenheit klar und deutlich im Landespersonalvertretungsgesetz geregelt.

§ 33 Abs. 1 LPVG Baden-Württemberg schreibt vor:

Ein Mitglied des Personalrats darf weder beratend noch entscheidend mitwirken, wenn die Entscheidung einer Angelegenheit ihm selbst oder folgenden Personen einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil bringen kann:
1. dem Ehegatten oder dem Lebenspartner nach § 1 des Lebenspartnerschaftsgesetzes,
2. einem in gerader Linie oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad Verwandten,
3. einem in gerader Linie oder in der Seitenlinie bis zum zweiten Grad Verschwägerten oder als verschwägert Geltenden, solange die die Schwägerschaft begründende Ehe oder Lebenspartnerschaft nach § 1 des Lebenspartnerschaftsgesetzes besteht, oder
4. einer von ihm kraft Gesetzes oder Vollmacht vertretenen Person. [1]

Analog dazu regelt das Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG) die Befangenheit in § 41 mit Verweis auf § 20 Abs. 5 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG).

Danach gilt: Mit jemandem lediglich befreundet zu sein, löst bei einer anstehenden Auswahlentscheidung keine Befangenheit aus, deshalb dürfte man bei der Bewerbung eines Trauzeugen zumindest de jure am Bewerberauswahlverfahren teilnehmen. Dessen ungeachtet wäre es allerdings in meinen Augen ratsam, vor Beginn des Bewerberauswahlverfahrens die persönliche Beziehung zum Bewerber offenzulegen - schon allein, um jedem Verdacht von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem wäre es unabhängig von der konkreten Rechtslage klug, sich in einer solchen Konstellation bei der Stellenbesetzung ganz herauszuhalten.

Insofern war die Teilnahme von Patrick Graichen an der Stellenbesetzung des Leiters der Deutschen Energie-Agentur (dena) wohl keine Befangenheit im juristischen Sinne, aber zweifellos ein schwerer politischer Fehler. Wer, wie die Grünen, ständig Transparenz fordert und Interessenskonflikten konsequent entgegentreten will, darf an das eigene Handeln keinen anderen Maßstab anlegen. Graichen wurde den ethischen Ansprüchen seiner Partei nicht gerecht, das wird er spätestens jetzt selbst am besten wissen.

Natürlich haben auch Graichens Kritiker mit Vetternwirtschaft ihre eigenen Erfahrungen gemacht, zum Beispiel in der Verwandtenaffäre. Oder nehmen wir Ronald Pofalla. Der CDU-Politiker und Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel war stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Generalsekretär der CDU und im Kabinett Merkel II Chef des Bundeskanzleramtes. Als 2015 bei der in Bundesbesitz befindlichen Deutschen Bahn AG ein Vorstandsposten zu besetzen war, erhielt Ronald Pofalla den Zuschlag, zunächst für den Bereich Wirtschaft, Recht und Regulierung. Zweifelsohne vom Geld her wesentlich attraktiver als "bloß" Bundesminister zu sein. Ab 2017 war er dann für den Bereich Infrastruktur zuständig. Der Vorgänger Pofallas als Infrastruktur-Vorstand, Volker Kefer, war Ingenieur. Als Kefer Ende 2016 ausschied, sollte ihn Presseberichten zufolge Siegfried Russwurm, ebenfalls ein Ingenieur, beerben. Geworden ist es indes der Sozialpädagoge (!) und Jurist (!) Pofalla. Süffisant könnte man hinzufügen: Und so sieht sie auch aus, die Infrastruktur der Bahn. Eben angesichts der Expertise erwartungsgemäß. Ich bin freilich vollkommen sicher, dass politische Kontakte, etwa die Nähe Pofallas zu Merkel, bei dieser Auswahlentscheidung nicht den geringsten Einfluss ausübten. Überhaupt keinen.

Aber sei's drum, das soll die Kritik an Graichen in keinster Weise schmälern. Er gilt als kluger Kopf. Das mag auf seine Expertise zutreffen, doch offenbar ist er politisch nicht klug genug. Ein Rücktritt wäre daher keineswegs unangemessen. Nichtsdestotrotz sollten die Pharisäer, die ihn wie gesagt zu Recht kritisieren, auch vor der eigenen Haustür kehren. In puncto Transparenz und Vermeidung von Interessenskonflikten waren nämlich unsere Politiker bislang generell eher zurückhaltend.

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[1] landesrecht-bw.de, Landespersonalvertretungsgesetz (LPVG) in der Fassung vom 12. März 2015