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23. Juni 2023, von Michael Schöfer
Das NPD-Paradoxon


Artikel 21 Abs. 2 GG sagt: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig." Absatz 3 bestimmt: "Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 (…) entscheidet das Bundesverfassungsgericht." Das Parteiverbot ist in einer Demokratie natürlich eine delikate Angelegenheit, weil dadurch massiv in den freien Meinungskampf eingegriffen wird. Gleichwohl ist es geboten und statthaft, die Demokratie wirksam vor ihren Feinden zu schützen. Stichwort: wehrhafte Demokratie. Andererseits ist das Parteiverbot in autokratischen Staaten ein weitverbreitetes Mittel, sich der demokratischen Opposition zu entledigen. Parteiverbote müssen also nicht, können aber durchaus Merkmal einer autoritären Regierung sein. Eine Gratwanderung.

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Verbot der NPD haben die Richter die Grundsätze erläutert, wann eine Partei verboten werden darf und wann nicht. Ich will die aus meiner Sicht wichtigsten herausgreifen:

Zunächst definiert das Gericht, welche zentralen Grundprinzipien für die freiheitliche demokratische Grundordnung "schlechthin unentbehrlich" sind:

die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG),
das Demokratieprinzip (die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung) und
das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

Die Hürden für ein erfolgreiches Parteiverbot sind - zu Recht - hoch: "Der Begriff des Beseitigens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet die Abschaffung zumindest eines ihrer Wesenselemente oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem. (…) Dass eine Partei die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt, muss sich aus ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger ergeben. (…)

Eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung einer Partei reicht für die Anordnung eines Parteiverbots nicht aus. Vielmehr muss die Partei auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung 'ausgehen'.
a) Ein solches 'Ausgehen' setzt begrifflich ein aktives Handeln voraus. Das Parteiverbot ist kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot. Notwendig ist ein Überschreiten der Schwelle zur Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die Partei.
b) Es muss ein planvolles Vorgehen gegeben sein, das im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder auf die Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist. (...)

Die Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus rechtfertigt für sich genommen die Anordnung eines Parteiverbots nicht. Allerdings kommt ihr erhebliche indizielle Bedeutung hinsichtlich der Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele zu." [1]

Das Bundesverfassungsgericht kommt in seinem 263 Seiten langen Urteil zu dem kurios klingenden Ergebnis, dass die NPD zwar "nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" anstrebt und "planvoll und qualifiziert auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele" hinarbeitet, es der Partei aber an Gewicht fehle, diese Ziele auch zum Erfolg zu führen. Kurz gesagt: Die NPD ist zwar verfassungswidrig, aber politisch nicht stark genug. Das NPD-Paradoxon.

Die entscheidenden Fragen sind allerdings: Wenn eine verfassungsfeindliche Partei politisch stark genug ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung erfolgreich beseitigen zu können, kann man sie dann überhaupt noch verbieten? Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Parteiverbot? Wie lange will man warten? Bis es zu spät ist wie anno 1933?

Die Frage stellt sich momentan konkret: Könnte man die AfD verbieten, weil viele Bürgerinnen und Bürger der Partei nicht ohne Grund unterstellen, der Demokratie feindlich gegenüberzustehen? In aktuellen Umfragen ist sie bundesweit bereits die zweitstärkste Partei in Deutschland - vor der SPD und den Grünen. Politisch stark genug, um ein Verbot zu rechtfertigen? Zumindest kurz davor.

Der Verfassungsschutz stuft die AfD als "Verdachtsfall" ein, d.h. es liegen nach Auffassung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) ausreichend tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindlichen Bestrebungen vor. [2] Rund ein Drittel der AfD-Mitglieder stuft das BfV als "extremistisch" ein. "Extremistische Bestrebungen im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes sind Aktivitäten mit der Zielrichtung, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen." [3] Die AfD indes wertet die Einstufung als Versuch, die Partei zu diskreditieren. Sie klagt dagegen vor den Gerichten, rechtskräftige Urteile stehen aber bislang aus.

Nazi-Demagoge Joseph Goebbels traf den Nagel in seiner höhnischen, aber in diesem Punkt freimütigen Rede zur Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken präzise auf den Kopf: "Wir nehmen gerne Ratschläge an von Menschen, die etwas besser verstehen als wir. Aber ist das rechtens, dass der Klügere sich vom Dümmeren kritisieren lassen soll? Und dass die anderen dümmer sind als wir, dass wird dadurch bewiesen, dass sie sich von uns aus der Macht heraus haben setzen lassen. Denn wären sie schlauer gewesen als wir, hätten sie vermutlich Verstand genug gehabt, uns daran zu verhindern. [sic] Denn sie hatten ja die Macht. Sie hatten den Staatsapparat und die Bürokratie und die Polizei und die Beamten und die öffentliche Meinung und die Mehrheit und das Geld. Wir hatten gar nichts. Nur Köpfchen, Köpfchen. (…) Wenn unsere Gegner sagen 'Ja, wir haben euch doch früher die Freiheit der Meinung zugebilligt' - ja ihr uns, das ist doch kein Beweis, das wir das euch auch tun sollen. Eure Dummheit braucht doch auf uns nicht ansteckend zu wirken. Dass ihr das uns gegeben habt, das ist ja ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid." [4]

Genau vor dem gleichen Problem stehen wir heute: Hindern wir die AfD noch rechtzeitig vor der "Machtübernahme"? Oder lassen wir es darauf ankommen, dass die demokratischen Institutionen, insbesondere die Justiz, auch danach weiter wie bisher funktionieren? Erfahrungsgemäß bekämpfen Autokraten, einmal an den Schalthebeln der Macht angelangt, zuerst die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse, um sich dann dauerhaft in der Regierungszentrale einzurichten (Polen, Ungarn, Türkei etc.). Die demokratische Opposition hat dann kaum noch realistische Siegchancen und wird häufig von einer willfährigen Justiz zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Die Nazis hatten in freien Wahlen nie die Mehrheit (bei der Reichstagswahl November 1932 kamen sie lediglich auf 33,1 %, verloren sogar gegenüber der vorherigen Reichstagswahl 4,2 Prozentpunkte), sind aber trotzdem mit tatkräftiger Hilfe der Konservativen in Regierungsämter gelangt. Anschließend regierten sie binnen kurzem diktatorisch. Der Rest ist bekannt. Lernen aus Weimar heißt auch, den richtigen Zeitpunkt für ein Parteiverbot keinesfalls zu verpassen.

Hätte ein Antrag zum Verbot der AfD derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht überhaupt eine Chance? Nach Ansicht des Deutschen Instituts für Menschenrechte: ja. [5] Als Nicht-Jurist maße ich mir in dieser hochkomplexen Rechtsfrage kein Urteil an. Als Demokrat und Staatsbürger sehe ich jedoch die Notwendigkeit, diese Frage ernsthaft zu prüfen, weil von der AfD eine enorme Gefahr für die Demokratie ausgeht. Und wir sollten nicht in die Verlegenheit kommen, uns einmal von ihr à la Goebbels verhöhnen zu lassen: "Wären sie schlauer gewesen als wir, hätten sie vermutlich Verstand genug gehabt, uns daran zu hindern."

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[1] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13
[2] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2022, PDF-Datei mit 6,7 MB, Seite 88f
[3] Bundesamt für Verfassungsschutz, Glossar, Bestrebungen
[4] Saarländischer Rundfunk, SR Fundstücke: Goebbels Rede, Rede von Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, zur Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken in der "Wartburg" am 4. Dezember 1935, ab Min. 13:32
[5] Deutsches Instituts für Menschenrechte, Hendrik Cremer, Warum die AfD verboten werden könnte, PDF-Datei mit 2,7 MB