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15. Juli 2023, von Michael Schöfer
Skurriler Kulturkampf ums Gendern


Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat getagt und sich erneut gegen das Gendern ausgesprochen. "Die Besonderheit der Wortbinnenzeichen zur Kennzeichnung einer geschlechterübergreifenden Bedeutung liegt darin, dass sie auf die orthografisch korrekte Schreibung von Wörtern unmittelbar einwirken. Diese Eigenschaft teilen sie mit einigen Satz- bzw. Wortzeichen (wortinterne Klammern, Apostroph, Bindestrich, Anführungszeichen), deren wortinterne Verwendung im Amtlichen Regelwerk beschrieben wird. Bei den Sonderzeichen mit Geschlechterbezug soll jedoch eine metasprachliche Bedeutung transportiert werden. Ihre Setzung kann in verschiedenen Fällen zu grammatischen Folgeproblemen führen, die noch nicht geklärt sind, z. B. in syntaktischen Zusammenhängen zur Mehrfachnennung von Artikeln oder Pronomen (der*die Präsident*in)." [1] Das ist zumindest für mich logisch nachvollziehbar, wobei sich zudem insbesondere mein Sprachgefühl gegen das Gendern sträubt. Der Beschluss des Rats für deutsche Rechtschreibung bedeutet aber auch, dass der skurrile Kulturkampf ums Gendern bis auf weiteres kein Ende findet.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat zwar die Aufgabe, "die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthografischen Regelwerks (...) im unerlässlichen Umfang weiterzuentwickeln", die Kulturhoheit in Deutschland liegt aber laut Grundgesetz bei den Ländern. [2] Der Rat macht nur Vorschläge, rechtsverbindlich sind diese jedoch nicht. Die Länder können also in ihrem Bereich von der Empfehlung des Rates abweichen, müssen es aber nicht. So dürfen sie im nachgeordneten Bereich (Schulen, Universitäten, Landesbehörden) durchaus regeln, ob dort gegendert wird oder nicht. Die komplexe Rechtslage erläuterten die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages in ihrem Sachstandsbericht "Rechtsverbindlichkeit der Verwendung der deutschen Rechtschreibung in Schulen und anderen Einrichtungen".

Ich vertrete seit langem die Position, es jedem freizustellen, ob er gendert oder nicht. Wer gendern will, soll es tun. Wer nicht gendern will, soll es lassen. Kein Zwang - weder in die eine noch in die andere Richtung. Aber so leicht ist es eben nicht, weil viele das Gendern partout vorschreiben oder verbieten wollen. Und dabei wird man, das ist charakteristisch für Kulturkämpfe, gerne in eine bestimmte Schublade gesteckt. Der Rat für deutsche Rechtschreibung ignoriert mit seiner Entscheidung "einen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein, der längst stattgefunden hat: Genderstern und Doppelpunkt sind nicht nur eine Frage der Grammatik. In den deutschen Medien, an den Schulen und in vielen anderen Bereichen sind Frauen und genderfluide Menschen sprachlich sichtbarer und hörbarer geworden", kommentiert die Frankfurter Rundschau. [3]

Das kann man so sehen. Oder auch nicht. Im Alltag (bei der Arbeit, beim Einkaufen, bei unfreiwillig mitgehörten Gesprächen in der Straßenbahn) habe ich noch nie erlebt, dass jemand tatsächlich gendert. Mein eigenes Erleben mag nicht repräsentativ sein, ist jedoch zumindest ein Indiz dafür, dass der "Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein" hauptsächlich "in den deutschen Medien" stattfindet, in der Bevölkerung dagegen bislang nicht allzu weit verbreitet ist. Unbestritten: Sprache wandelt sich, Germanisten ausgenommen versteht heute keiner mehr Mittelhochdeutsch ("uns ist in alten mæren wunders vil geseit"). Dennoch ist die Frage keineswegs irrelevant, ob der Wandel von unten kommt (durch den allmählich häufiger werdenden alltäglichen Gebrauch) oder von oben verordnet wird. Was das Gendern angeht ist meinem Eindruck nach die Akzeptanz in der Bevölkerung gering. Und das Debakel um die Rechtschreibreform sollte uns Mahnung genug sein, den Menschen nichts par ordre du mufti aufzuzwingen.

"Seit Jahren wird vor allem auf der politischen Bühne von Rechts ein Kulturkampf gegen das Gendern in der deutschen Sprache geführt. Oft sehr laut und hässlich. Und fast immer mit dem absurden Vorwurf verknüpft, ein links-grün-akademisches Milieu wolle - ideologisch vernagelt – den Menschen in Deutschland vorschreiben, wie sie zu reden und zu schreiben hätten. Der Vorwurf ist ein Bumerang, er fällt auf die Sprachpolizist:innen zurück, die selbst mit Genderverboten gegen die Vielfalt und Lebendigkeit der deutschen Sprache kämpfen", echauffiert sich die Frankfurter Rundschau. Die Verbissenheit auf beiden Seiten ist in der Tat immens. Ich lege freilich Wert auf die Feststellung: Wer sich gegen das Gendern ausspricht, steht nicht automatisch politisch rechts und vertritt ein überholtes Rollenverständnis. Umgekehrt sind Genderbefürworter nicht automatisch intolerant und wollen andere bevormunden. Nicht automatisch, wobei das sicherlich - wohlgemerkt auf beiden Seiten - vorkommt. Ein wie auch immer geartetes Schubladendenken ist jedenfalls dem demokratischen Diskurs abträglich und daher kontraproduktiv.

Warum gibt es so wenig Toleranz in der Gesellschaft? Warum kann man den Menschen nicht einfach die freie Wahl lassen, ob sie gendern wollen oder nicht? Dazu gehört natürlich auch das Prinzip, sich - warum auch immer - keinesfalls beleidigt zu fühlen, wenn es Menschen tun oder lassen. Deshalb sollte man das Gendern weder vorschreiben noch verbieten. Das in Baden-Württemberg 2009 unter einer schwarz-gelben (!) Landesregierung herausgegebene Merkblatt halte ich für den Gebrauch in Behörden für ebenso fortschrittlich wie ausreichend. Privat kann einem ohnehin niemand vorschreiben, wie man zu sprechen hat. Man wird künftig mit der Häufigkeit des (freiwilligen) Gebrauchs feststellen, ob das Gendern von der Bevölkerung tatsächlich angenommen wird oder nicht. Und wenn dann dereinst das Gendern üblich sein sollte, wird gewiss auch der Rat für deutsche Rechtschreibung eine sprachwissenschaftlich akzeptable Lösung präsentieren.

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[1] Rat für deutsche Rechtschreibung, Mitteilung vom 14.07.2023
[2] Rat für deutsche Rechtschreibung, Statut, PDF-Datei mit 138 KB
[3] Frankfurter Rundschau vom 14.07.2023