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16. Juli 2023, von Michael Schöfer
Populistischer Schnellschuss: Schnellverfahren à la Linnemann


Frei nach Boethius (ca. 480 bis 526 n. Chr., Trost der Philosophie): "Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben." [1] Aber Carsten Linnemann ist nun mal kein Philosoph, sondern CDU-Generalsekretär, da gehören populistische Schnellschüsse, die freilich bei genauerem Hinsehen Kokolores sind, anscheinend zur Jobbeschreibung. Blamage-Gefahr inklusive, doch Linnemann hat davor offensichtlich keine Angst.

Was ist passiert? In einem Berliner Freibad gab es vor kurzem eine Massenschlägerei, daran beteiligten sich etwa 20 junge Menschen. "Die Jugendlichen flüchteten, Wachleute hielten aber einen 14-jährigen und einen 16-jährigen Jugendlichen fest. Der 16-Jährige und ein 24-jähriger Wachmann verletzten sich bei der folgenden Auseinandersetzung gegenseitig leicht." [2] Das ist hierzulande in Freibädern zweifellos ein ernstes Problem. Wirklich, ohne jede Ironie!

Was macht ein Philosoph, äh CDU-Generalsekretär? Er fordert einfach mal etwas - egal, ob es Hand und Fuß hat. Und offenbar auch noch, ohne sich vorher erst einmal umfassend zu informieren. Gewalttaten in Freibädern sollten noch am selben Tag geahndet werden, meint Linnemann. "'Es braucht Schnellverfahren gegen Gewalttäter, das Justizsystem muss entsprechend organisiert werden. Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muss abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden. Auch am Wochenende.' Die Strafprozessordnung gebe das her. Auch das Strafmaß müsse voll ausgeschöpft werden, bis hin zu Haftstrafen." [3]

Schnellverfahren, genauer ein "beschleunigtes Verfahren", gibt es laut Strafprozessordnung tatsächlich, sie sind in den §§ 417 bis 420 geregelt. Hätte Linnemann dort einmal nachgelesen, wären ihm vielleicht Zweifel gekommen. Ein beschleunigtes Verfahren ist nämlich nur zulässig, wenn es sich um einen einfachen Sachverhalt handelt und die Beweislage klar ist. (§ 417 StPO) Ist die Massenschlägerei in einem Freibad ein einfacher Sachverhalt? Wohl kaum, denn daran Beteiligte könnten sich auf Notwehr (§ 32 StGB) berufen: "Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden."

Außerdem ist eine Massenschlägerei naturgemäß eine ziemlich unübersichtliche Situation. Hier ist also kaum in der für ein Schnellverfahren à la Linnemann erforderlichen Zeit und mit der gesetzlich vorgeschriebenen Gründlichkeit (vgl. § 160 Abs. 2 StPO bzw. § 244 Abs. 2 StPO) zu ermitteln, wer angegriffen oder wer sich bloß verteidigt hat. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Von Unbeteiligten, die sich beispielsweise rennend vom Ort des Geschehens (der Gefahrenzone) entfernen und dadurch verdächtig gemacht haben, ganz zu schweigen. Aber Linnemann will ja partout noch am gleichen Tag verurteilen.

Zudem ist das Strafmaß bei einem beschleunigten Verfahren begrenzt: "Eine höhere Freiheitsstrafe als Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf in diesem Verfahren nicht verhängt werden." (§ 419 Abs. 1 Satz 2 StPO) Das Strafmaß bei Körperverletzung (§ 223 StGB) beträgt bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug, bei Gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) bis zu zehn Jahren. Mit anderen Worten: Das Strafmaß des Strafgesetzbuches darf bei einem Schnellverfahren gar nicht ausgeschöpft werden. Kuriose Folge: Ein Täter kommt dabei unter Umständen sogar besser weg als in einem regulären Strafverfahren. Und es gibt dann später keinen Nachschlag mehr, denn wegen derselben Straftat darf man nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden.

Hätte sich Linnemann obendrein noch die Mühe gemacht, ins Jugendgerichtsgesetz (JGG) zu schauen, wäre er vielleicht auf § 79 Abs. 2 gestoßen: "Das beschleunigte Verfahren des allgemeinen Verfahrensrechts ist [bei Jugendlichen, der Verf.] unzulässig." § 1 Abs. 2 JGG definiert, wer Jugendlicher ist: "Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn (…) Jahre alt ist." Gegen die bei der o.g. Massenschlägerei festgehaltenen Jugendlichen (14 und 16 Jahre alt) hätte man also gar kein beschleunigtes Verfahren durchführen dürfen, selbst wenn der Sachverhalt einfach und die Beweisklage klar gewesen wäre.

Es gibt zwar auch im Jugendgerichtsgesetz ein vereinfachtes Verfahren, dessen Anwendung ist aber nur zulässig, "wenn zu erwarten ist, daß der Jugendrichter ausschließlich Weisungen erteilen, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 Nr. 1 anordnen, Zuchtmittel verhängen, auf ein Fahrverbot erkennen, die Fahrerlaubnis entziehen und eine Sperre von nicht mehr als zwei Jahren festsetzen oder die Einziehung aussprechen wird". (§ 76 JGG Satz 1) Nichtsdestotrotz bedarf es auch hier einer klaren Beweislage, die bei einer Massenschlägerei allerdings… (siehe oben) Die Anwendung des vereinfachten Jugendverfahrens ist nämlich unzulässig, "wenn die Anordnung von Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 Nr. 2 oder die Verhängung von Jugendstrafe wahrscheinlich oder eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist." (§ 77 Abs. 1 Satz 1 JGG, Hervorhebung durch den Verf.)

Was Carsten Linnemann fordert, ist daher von keinem Gesetz gedeckt, es ist vielmehr populistischer Unsinn.

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[1] Wiktionary, si tacuisses, philosophus mansisses
[2] Merkur.de vom 23.06.2023
[3] Der Tagesspiegel vom 16.07.2023