Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



19. Juli 2023, von Michael Schöfer
Das Wächteramt ist auf den Hund gekommen


Was ist bloß aus dem Wächteramt der Presse geworden? Es ist offenbar auf den Hund gekommen, die Sparmaßnahmen in den Redaktionen beeinträchtigen anscheinend das journalistische Handwerk nachhaltig. Am Sonntagmorgen konnte jeder in "Bild am Sonntag" die Forderung von Carsten Linnemann nachlesen: "Schnellverfahren gegen Freibad-Schläger!", lautete die Schlagzeile. [1] Von BILD erwartet niemand differenzierten Journalismus, der zustimmende Kommentar [2] des Blattes verwundert daher kaum, aber wo waren die anderen Zeitungen, wo war der vielbeschworene Qualitätsjournalismus? Die anderen Zeitungen wiederholten auf ihren Websites fleißig die Agenturmeldungen - bis in die Formulierung einzelner Sätze hinein. Copy and paste. Von Ausnahmen abgesehen wurde am Sonntag als Gegenrede hauptsächlich die Äußerung des Deutschen Richterbundes wiedergegeben, der lediglich auf die unzureichende personelle Ausstattung der Justiz hinwies. Die "vielfältige" Presselandschaft ist mittlerweile ziemlich eintönig geworden.

Erst jetzt, zwei oder drei Tage danach, wenn der Markt also längst verlaufen ist, liest man in der Presse fundierte Stellungnahmen. Reinhard Schade ist Richter am Landgericht Bautzen und Vorsitzender des Sächsischen Richtervereins. "Eine Schlägerei in einem überfüllten Freibad eignet sich aus seiner Sicht nicht für ein beschleunigtes Verfahren. Diese Ansicht vertritt auch Sabine Wylegalla von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden: 'Das Gesetz gibt vor, dass im beschleunigten Verfahren die verhandelt werden können, denen ein einfacher Sachverhalt zu Grunde liegt oder eine klare Beweislage.'" [3] Und der im vorliegenden Zusammenhang nicht unwichtige Hinweis, dass bei Jugendlichen die Anwendung des beschleunigten Verfahrens unzulässig ist, findet sich nun zumindest gelegentlich. [4]

Politprofis wie Carsten Linnemann wissen das natürlich, kalkulieren die verspätete Reaktion der Presse vermutlich sogar bewusst ein. Der populistische Schnellschuss muss raus und bleibt im Gedächtnis. Und leider oft genug nur der. Wenn Kritiker anschließend darauf hinweisen, dass das Ganze so aus rechtlichen Gründen gar nicht geht, wird längst eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Das ist der Zweck der Übung: Wenigstens ein oder zwei Tage beherrscht man nahezu widerspruchslos die Schlagzeilen. In juristischen Details eher unbewanderte Bürger sagen sich: "Mensch, der Linnemann hat's denen mal wieder ordentlich gegeben!" Doch was soll aus unserer Demokratie werden, wenn Politiker mit steigender Tendenz solche unseriösen Scheinlösungen propagieren, substanziell aber nicht das Geringste anzubieten haben?

Früher, als das Wächteramt der Presse noch funktionierte, hätten Journalisten sofort recherchiert und zunächst in den einschlägigen Gesetzestexten nachgesehen (alte Juristenweisheit: "Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung"). Fachkundigen Journalisten wäre das ohnehin sofort klar gewesen, sie hätten Linnemanns Vorschlag buchstäblich von vorne bis hinten zerpflückt. Spätestens mit Erscheinen der Printausgabe am Montagmorgen wäre sein Schnellschuss zerplatzt wie eine Seifenblase. Online-Redaktionen mit ihrer ausgedünnten Besetzung, zumal am Wochenende, bekommen das anscheinend nicht mehr hin, für die Printausgaben gilt das leider genauso. Blogger [5] hingegen haben meist nicht die erforderliche Reichweite, werden von den Suchmaschinen - wenn überhaupt - bestenfalls verspätet angezeigt.

Warum gibt es diesen Qualitätsjournalismus immer seltener? Klar, immer weniger zahlende Abonnenten, immer weniger Geld für die personelle Ausstattung von Redaktionen. Ein Teufelskreis, weil durch ausgedünnte Redaktionen die journalistische Qualität noch weiter abnimmt, was Menschen wiederum verständlicherweise seltener dazu animiert, eine Zeitung zu abonnieren. Kostenlos Agenturmeldungen lesen kann man schließlich überall. Offen gesagt: Ich weiß auch keine Lösung, mache mir aber um das Funktionieren der Demokratie große Sorgen. Wenn ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts mehrheitlich nur noch die schnelle, reißerische Nachricht wahrgenommen wird, wie soll dann eine auf Vernunft basierende Gesellschaft funktionieren? Anders als es Populisten suggerieren, sind komplexe Probleme nämlich nicht im Hauruckverfahren zu lösen. Kurzen Prozess machen à la Linnemann kennen wir aus Zeiten, die sich niemand zurückwünschen sollte.

----------

[1] Bild.de vom 16.07.2023
[2] Bild.de vom 17.07.2023
[3] mdr vom 18.07.2023
[4] Legal Tribune Online vom 18.07.2023