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05. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt


Nur damit kein falscher Eindruck entsteht: Es ist keineswegs so, dass ich nun auf meine alten Tage christlich geworden wäre. Sich kurz vor dem biologischen Abgang das ewige Leben mit inbrünstiger Frömmigkeit erschleichen, pardon, verdienen zu wollen, überlasse ich gerne anderen. Dennoch halte ich es für notwendig, Mitbürger, die ihre christliche Gesinnung wie eine Monstranz vor sich hertragen, auch gelegentlich mit christlichen Glaubensinhalten zu konfrontieren. Oft hat man nämlich den Eindruck, dass da außer dem demonstrativen Gottesdienstbesuch für die zufällig anwesenden Presse-Fotografen nicht mehr allzu viel christliche Substanz vorhanden ist. Getreu dem bekannten Bibelspruch: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Privatflugzeugbesitzer aus der gehobenen Mittelschicht in das Reich Gottes gelangt." (Markus 10,25) Oder so ähnlich.

"Wir halten an religiös fundierten Werten und der Verantwortung des Einzelnen vor seinem Gewissen und Gott fest", bekommt man auf der Website der CDU zu lesen. Und im aktuellen Grundsatzprogramm der CDU aus dem Jahr 2007 steht Folgendes: "Das christliche Verständnis vom Menschen gibt uns die ethische Grundlage für verantwortliche Politik. (…) Für uns ist der Mensch von Gott nach seinem Bilde geschaffen. Aus dem christlichen Bild vom Menschen folgt, dass wir uns zu seiner unantastbaren Würde bekennen. Die Würde aller Menschen ist gleich, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Alter, von religiöser und politischer Überzeugung, von Behinderung, Gesundheit und Leistungskraft, von Erfolg oder Misserfolg und vom Urteil anderer. Wir achten jeden Menschen als einmalige und unverfügbare Person in allen Lebensphasen. Die Würde des Menschen - auch des ungeborenen und des sterbenden - ist unantastbar." Falls sie jetzt nass geworden sind: Das sind bloß die hehren Ansprüche, die aus dem Grundsatzprogramm triefen. Allerdings fügt die CDU in weiser Voraussicht hinzu: "Dennoch wissen wir, dass sich aus christlichem Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lässt." [1] Mit anderen Worten: Da, wo christlicher Glaube draufsteht, muss nicht unbedingt auch christlicher Glaube drin sein.

Und so sieht diese Diskrepanz im konkreten Fall der Flüchtlingspolitik aus:

Einerseits: Das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 25,34-46
"Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.
Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen;
ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?
Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?
Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!
Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben;
ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?
Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.
Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben." [2]

Andererseits: Friedrich Merz, Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union
"Der Bundeskanzler muss eine klare Botschaft nach draußen senden, die auch in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ankommt: dass Deutschland nicht mehr in der Lage ist, Menschen ohne Asylgrund aufzunehmen." Es sei eine "grundsätzliche Begrenzung der Transferleistungen für abgelehnte Asylbewerber" notwendig, sagte der Oppositionsführer dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). "Der Spielraum des Bundesverfassungsgerichts sollte genutzt werden: Aktuell wird die Unterstützung für Asylbewerber im Asylbewerberleistungsgesetz nach 18 Monaten stark ausgeweitet. Dieser Zeitraum sollte auf mindestens drei Jahre verlängert werden", betonte Merz mit Blick auf die Gesundheitsversorgung von abgelehnten Asylbewerbern. "Wir dürfen keine Anreize zur Bleibe geben, wenn kein Bleiberecht in Deutschland besteht. Die Botschaft an die 300.000 abgelehnten Asylbewerber lautet aktuell: Ihr müsst nur lange genug bleiben, dann geht es euch in Deutschland immer besser. Das müssen wir korrigieren." [3]

Was mich immer wieder aufs Neue furchtbar aufregt, ist diese schäbige Heuchelei: In Sonntagsreden das christliche Menschenbild hochhalten, aber im Alltag den Flüchtlingen ("einen meiner geringsten Brüder") das Leben schwermachen. Dass Jesus der Legende nach ein Kind von Flüchtlingen war? Bedeutungslos! Hätte die CDU das Reich des Herodes als sicheres Herkunftsland eingestuft? Nicht auszuschließen! Von Merz' unsäglichen Fake-News über angeblich brechend volle Zahnarztpraxen ganz zu schweigen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten! Natürlich können wir nicht alle aufnehmen, was im Übrigen auch kein vernünftiger Mensch fordert. Natürlich wird unser Gemeinwesen durch den Zustrom belastet. Aber es kommt doch darauf an, dass wir diese Situation mit Anstand und unter Beachtung der Menschenrechte bewältigen. Woher jemand seine humanistische Gesinnung nimmt, ob vom Christentum oder andernorts, ist mir im Grunde egal. Hauptsache, er handelt human. Bedauerlicherweise tritt diese Humanität mehr und mehr in den Hintergrund. Und das ausgerechnet bei der Christlich Demokratischen Union.

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[1] CDU, Das Grundsatzprogramm. Beschlossen vom 21. Parteitag Hannover, 3.-4. Dezember 2007, Seite 4 und 5, PDF-Datei mit 907 KB
[2] Universität Innsbruck, Die Bibel in der Einheitsübersetzung, Hervorhebung durch den Verfasser
[3] RND vom 05.10.2023