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01. Juli 2019, von Michael Schöfer
Ein schlechtes Vorbild für Polizeibeamte


Polizeigewerkschafter Rainer Wendt (DPolG) macht es sich wieder einmal einfach: "Die Art, wie der europäische Rechtsstaat Italien derzeit agiert, findet meine Zustimmung, hier wird nicht das Recht außer Kraft gesetzt, weil man sich gerade die Maske einer selbst definierten Moral aufgesetzt hat, deshalb der spontane Ausruf 'Bella Italia'. Hier folgt man dem Gesetz und davon könnten viele Menschen in Deutschland viel lernen", schreibt er auf seiner Facebook-Seite. [1] Seine Äußerung bezieht sich offenkundig auf die Verhaftung der Kapitänin der "Sea-Watch 3", Carola Rackete.

Doch Wendt ist für seine unüberlegten Schnellschüsse bekannt. Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Antiterrorkampf mehr Kompetenzen forderte, sagte der Polizeigewerkschafter: "Die Vorschläge von Minister Schäuble sind in Wahrheit nichts Neues und bewegen sich alle auf dem Boden unserer Verfassung." [2] Das Bundesverfassungsgericht war anderer Auffassung und hat etwa in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz festgestellt, dass der Abschuss einer Passagiermaschine nicht mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) vereinbar ist, "soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden". [3] Das war nicht der einzige Vorschlag Schäubles, den die Verfassungsrichter wieder einkassierten oder zumindest deutlich abschwächten. Rainer Wendt scheint indes aus seiner peinlichen Zustimmung zu letztlich verfassungswidrigen Vorschlägen nichts gelernt zu haben.

Ob die Verhaftung von Carola Rackete wirklich den Gesetzen folgt, liegt nämlich ebenso wenig auf der Hand. Im Gegenteil, denn es gilt: Wer Menschen nicht aus Seenot rettet, macht sich dadurch strafbar. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages schreiben dazu: "Die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot ist als Ausdruck der Menschlichkeit tief verankert in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition und gilt gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht." [4] Es blieb jedoch nicht beim ungeschriebenen Völkergewohnheitsrecht, es wurde vielmehr u.a. in den nachfolgenden Abkommen kodifiziert.

Zum Beispiel im Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), dem Italien am 11.06.1980 beigetreten ist und das dort am 11.09.1980 in Kraft trat. [5] In Kapitel V des Anhangs zum SOLAS heißt es: "Der Kapitän eines auf See befindlichen und zur Hilfeleistung fähigen Schiffes, der von irgendeiner Seite eine Meldung erhält, dass Personen sich in Seenot befinden, ist verpflichtet, ihnen mit größter Geschwindigkeit zu Hilfe zu eilen..." [6]

Auch das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen fordert in Artikel 98: "Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, jede Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten." [7] Die Geretteten sind innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort zu bringen. Das ist in Italien ebenfalls verbindliches Recht.

Ob das Anlanden von aus Seenot geretteten Menschen gegen italienische Gesetze verstößt, bleibt abzuwarten. Genauso, ob diese im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen stehen und was davon letztlich Priorität genießt. Es ist also keineswegs von vornherein klar, ob sich Carola Rackete tatsächlich strafbar gemacht hat. Das werden, wie in einem Rechtsstaat üblich, die italienischen Gerichte entscheiden. Oder die auf europäischer Ebene. Die Fans des italienischen Innenministers Matteo Salvini blenden obendrein komplett aus, dass dieser nur aufgrund seiner Immunität um ein Gerichtsverfahren herumkam, gegen ihn wurde nämlich wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung ermittelt. Es scheint daher eher Salvini zu sein, der gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt gerät.

Gleichwohl hat Wendt bereits seine Entscheidung getroffen. Eine echte Koryphäe, die über alle Feinheiten des nationalen und internationalen Rechts bestens informiert zu sein scheint. Was Richter erst nach wochen-, monate- oder mitunter jahrelangen Beratungen entscheiden, weiß Wendt offenbar schon nach wenigen Stunden. Wow! Man darf ihm deshalb summa cum laude im Fach Populismus attestieren.

Mäßigung und sorgfältig abgewogene Urteile sind Rainer Wendts Sache nicht, stattdessen reagiert er gerne mit Häme und Besserwisserei. Deutschland isoliere sich "zusehends mit seiner arroganten, selbstverliebten und weltfremden Attitüde des Obermoralisten", schreibt der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft. Nun, wir werden sehen, wer am Ende recht behält. Die Solidarität mit Rackete scheint jedenfalls riesengroß zu sein - übrigens nicht nur in Deutschland. Unabhängig davon ist es beschämend, dass der Vorsitzende einer Berufsvertretung von Polizeibeamten ausgerechnet einem Innenminister der rechtsextremen Lega Nord applaudiert.

Wendt ist m.E. ein schlechtes Vorbild für Polizeibeamte, denn die müssen das Recht frei von subjektiven Vorurteilen anwenden. Voreingenommenheit ist bei Sicherheitsbehörden (Polizei, Justiz) generell von Übel. Ressentiments trüben den Blick und führen leicht zu Fehlurteilen, sie zerstören dadurch in der Bevölkerung die für das Funktionieren der Sicherheitsbehörden notwendige Vertrauensbasis. Wendt beklagt zu Recht fehlenden Respekt gegenüber Polizisten, allerdings lässt er diesen gegenüber anderen oft selbst vermissen. Um zu diesem Urteil zu gelangen, genügt ein Blick auf seine zahlreichen polemischen Beiträge auf Facebook, abwertende Äußerungen über Andersdenkende finden sich dort zuhauf.

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[1] Facebook-Seite von Rainer Wendt, Post vom 30.06.2019
[2] Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Sicherheitsdebatte in Deutschland (Archiv)
[3] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15.02.2006 - 1 BvR 357/05
[4] Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, Informationspflichten im Rahmen internationaler  Seenotrettungseinsätze, PDF-Datei mit 101 KB, Seite 5
[5] Schweizerische Eidgenossenschaft, Der Bundesrat, Portal der Schweizer Regierung, PDF-Datei mit 129 KB
[6] Europäisches Parlament, Generaldirektion externe Politikbereiche, Migranten im Mittelmeerraum: Schutz der Menschenrechte, Seite 31, PDF-Datei mit 2 MB
[7] Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, PDF-Datei mit 694 KB

Nachtrag (02.07.2019):
Carola Rackete ist wieder frei. "Die Untersuchungsrichterin betonte, dass Rackete gezwungen worden sei, Lampedusa anzusteuern, weil die Häfen in Libyen und Tunesien nicht sicher seien", erläutert der österreichische Standard. [8] Mit anderen Worten: Die italienische Justiz hat die Pflicht zur Seenotrettung, wie sie in den internationalen Abkommen niedergelegt ist, als ausreichende Rechtsgrundlage für das Verhalten der Sea Watch-Kapitänin anerkannt. Zumindest dadurch hat sich Rackete nicht strafbar gemacht, die Umstände der Hafeneinfahrt (Kollision mit einem Schnellboot der Guardia di Finanza) werden später geprüft.

Es gibt mindestens zwei, die sich hierdurch furchtbar blamiert haben: Der italienische Innenminister Matteo Salvini, der mit einer strengen Strafe, aber offenbar nicht mit der Unabhängigkeit der Justiz gerechnet hat. Und der deutsche Polizeigewerkschafter Rainer Wendt, der Racketes Festnahme lautstark, aber offenkundig etwas voreilig bejubelte. Meine Einschätzung, dass dies abermals einer seiner üblichen Schnellschüsse war, hat sich bestätigt. Es zeigt sich halt immer wieder aufs Neue: Erst über die Rechtslage informieren und anschließend ein bisschen darüber nachdenken, erweist sich oft als äußerst nützlich. Davon könnten in der Tat "viele Menschen in Deutschland viel lernen", in erster Linie Rainer Wendt selbst. Und seine Claqueure auf Facebook.

[8] Der Standard vom 02.07.2019