Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 28. August 2024, von Michael Schöfer Weder Scholz noch Merz sind kanzlertauglich Es ist das Manko des Friedrich Merz, immer wieder mit unpraktikablen und teilweise auch rechtswidrigen Vorschlägen glänzen zu wollen, die er manchmal innerhalb von wenigen Stunden relativieren muss. "CDU-Chef Merz fordert eine umgehende Lösung des Problems der ungeregelten Migration. Für dieses Ziel würde er auch vor einer Änderung des Grundgesetzes nicht zurückschrecken", hieß es gestern. "'Es gibt kein Tabu', sagte er in der Bundespressekonferenz in Berlin nach einem Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf eine entsprechende Frage. 'Wir können über alle Regeln reden.'" [1] Stehen wirklich alle Regeln zur Disposition? Gibt es tatsächlich keine Tabus? Darüber lohnt es sich nachzudenken. Merz garnierte das Ganze mit dem vergifteten Angebot des Koalitionsbruchs: "Also wenn wir uns zusammenraufen, Union und SPD, dann brauchen wir weder die FDP noch die Grünen, um entsprechende gesetzliche Änderungen zu vollziehen." [2] Nach nicht einmal 24 Stunden rudert er jedoch unvermittelt zurück: "Eine Änderung des Asylrechts im Grundgesetz fordern wir nicht", sagte er der dpa. [3] Ja, was denn nun? Vielleicht wäre es vorteilhaft, Friedrich Merz würde vor seinen Äußerungen nachdenken, nicht erst danach. Unüberlegt ist auch sein Spiel mit wechselnden Mehrheiten. Nach menschlichen Ermessen wird nämlich auch die Union bei der Bundestagswahl 2025 keine absolute Mehrheit erreichen. Mit anderen Worten: Selbst ein Kanzler namens Friedrich Merz wird sich auf irgendeine Koalition stützen müssen. Und bislang gab es in jedem Koalitionsvertrag eine Klausel, die wechselnde Mehrheiten ausschloss, anders können Regierungskoalitionen auch nicht funktionieren. "Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen", stand etwa im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 12. März 2018. [4] Entsprechendes findet sich im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Als die SPD Anfang 2018 in der Frage der Abschaffung des damals noch existierenden Werbeverbots für Abtreibungen (§ 219a StGB) kurz mit wechselnden Mehrheiten kokettierte (FDP, Grüne und Linke waren ebenfalls für dessen Abschaffung), warf ihr die Union den Bruch des frisch unterzeichneten Koalitionsvertrags vor. Die SPD musste gezwungenermaßen zurückrudern, der § 219a wurde deshalb erst 2022 aufgehoben. Wechselnde Mehrheiten, sprich eine Minderheitsregierung, sind allenfalls denkbar, wenn es nach einer Neuwahl im Deutschen Bundestag nicht mehr zu einer stabilen Regierungsmehrheit reicht. Schaffen 2025 weder FDP noch Linke den Einzug, könnte unter Umständen selbst eine Koalition von Union und SPD die Kanzlermehrheit (Artikel 63 GG) verfehlen. Eine Minderheitsregierung, ein sich nur auf die relative Mehrheit des dritten Wahlgangs stützender Kanzler, wäre auf Bundesebene ein Novum und somit ein gewagtes politisches Experiment. Mehrheiten in Einzelfragen mögen noch vergleichsweise leicht zustande kommen, aber spätestens bei der Aufstellung eines Bundeshaushalts wird es dann extrem kompliziert. Daran verschlucken sich ja sogar Regierungskoalitionen, wie man an der Ampelregierung sieht. Ein von Merz provozierter Koalitionsbruch kann, muss aber nicht unbedingt zu Neuwahlen führen. Olaf Scholz ist so lange im Amt, bis ihn die Mehrheit des Bundestages durch ein konstruktives Misstrauensvotum stürzt. Es gilt das Grundgesetz, im vorliegenden Fall Artikel 67. Und es kann ihn niemand zwingen, die Vertrauensfrage (Artikel 68 GG) zu stellen. Die SPD will gegenwärtig alles, bloß keine Neuwahlen. Das Gewürge einer SPD-Minderheitsregierung ginge also womöglich bis zur nächsten Bundestagswahl in verschärfter Form weiter. Angesichts der aufgeheizten Stimmung nach dem Anschlag in Solingen mag Friedrich Merz die Forderung nach wechselnden Mehrheiten leicht über die Lippen gekommen sein, doch spätestens wenn er selbst Kanzler ist, wird er davon nichts mehr wissen wollen. Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern. Darauf muss sich Merz übrigens öfter berufen, als ihm lieb sein kann. Es genießt seinen schlechten Ruf schließlich nicht umsonst. Dem Deutschlandtrend zufolge waren Anfang August 2024 57 Prozent der Befragten mit dem CDU-Vorsitzenden weniger oder gar nicht zufrieden. Erstaunlicherweise mehr, als mit Sahra Wagenknecht und Tino Chrupalla unzufrieden waren (beide jeweils 55 %). [5] Angesichts der eklatanten Schwäche der Bundesregierung ist das bemerkenswert und für Merz alarmierend. Es ist zweifellos das Recht der Opposition, die Regierung in die Enge zu treiben, was bei der Ampelregierung aber nicht allzu schwer fällt, denn das übernehmen die Koalitionsparteien überwiegend selbst. Was man jedoch vom Oppositionsführer und Möchtegern-Kanzler erwarten kann, ist, dass er Vorschläge präsentiert, die mit dem nationalen, europäischen und internationalen Recht vereinbar sind. Afghanen und Syrer an den Grenzen pauschal zurückzuweisen gehört schon einmal nicht dazu. Und wohl ebenso wenig der von Merz geforderte "unbegrenzte Abschiebegewahrsam". Von den praktischen Problemen bei Abschiebungen (Mitwirkung von Dritt- bzw. Zielstaaten) ganz zu schweigen. Das Völkerrecht ist hierzulande laut Grundgesetz bindendes Recht und steht sogar über dem Bundesrecht (vgl. Artikel 25 GG). So gesehen wird auch Friedrich Merz beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention kaum ignorieren können. Wenn er das - siehe oben - trotzdem suggeriert, täuscht er die Wählerinnen und Wähler. Es wäre wünschenswert, Friedrich Merz würde mehr als bloß heiße Luft produzieren, mit der er lediglich unerfüllbare Erwartungen weckt, denn am Ende nützt das nur den Feinden der Demokratie, denen verbriefte Rechte ohnehin gleichgültig sind. Das Verhalten des CDU-Vorsitzenden ist daher vollkommen unverantwortlich. Die Menschen mit dem Herbeireden einer "nationalen Notlage" auf die Bäume der Unvernunft zu treiben, ist vergleichsweise leicht. Sie von dort aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, dürfte ihm schwerfallen. Die AfD freut sich bestimmt. Es gilt nach wie vor, was ich bereits andernorts geschrieben habe: Meiner Ansicht nach wird Friedrich Merz von seinen Anhängern überschätzt. Vielleicht überschätzt er sich auch selbst. [6] Kanzlertauglich ist er in meinen Augen jedenfalls nicht. Was nicht heißt, dass ich Olaf Scholz für kanzlertauglich halte. Es ist vielleicht die besondere Tragik Deutschlands, dass diese extrem schwierige Zeit mit einem so dürftigen personellen Angebot der Parteien einhergeht. ----------
[1]
Bayerische Staatszeitung vom
27.08.2024
[2]
tagesschau.de vom 27.08.2024
[3]
Tagesspiegel vom 27.08.2024
[4]
CDU, Koalitionsvertrag zwischen CDU,
CSU und SPD, 19. LegislaturperiodeSeite 173, PDF-Datei mit
8,7 MB
[5]
tagesschau.de vom 08.08.2024,
DeutschlandTrend vom August 2024: Alle Grafiken zum
Download, PDF-Datei mit 299 KB
[6] siehe Das Kandidaten-Schaulaufen vom
15.02.2020
|