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07. Dezember 2024, von Michael Schöfer
War das wirklich ein Angriff?


Die großen Fragen unserer Zeit: Was ist wahr? Was ist gelogen? Werden wir manipuliert? Und wenn ja, von wem? Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Wobei oft schon im Vorfeld von Kriegen gelogen wird, insbesondere wenn es um die Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt geht. Nehmen wir etwa die Emser Depesche, deren Inhalt von Bismarck absichtlich falsch wiedergegeben wurde und die dann schließlich wie von ihm gewünscht zum deutsch-französischen Krieg (1870/71) führte. Die nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins gelten mittlerweile als Klassiker der Kriegslügen.

Ein heute leider weniger bekanntes Beispiel: 1964 behaupteten die USA, "nordvietnamesische Schnellboote [hätten] zwei US-amerikanische Kriegsschiffe mehrmals ohne Anlass beschossen. Damit begründete die US-Regierung unter Präsident Lyndon B. Johnson ihre Tonkin-Resolution: Diese forderte das direkte Eingreifen der Vereinigten Staaten von Amerika in den seit 1956 andauernden Vietnamkrieg und legalisierte nach ihrer Annahme im US-Kongress von 1965 bis 1973 alle dortigen Kriegsmaßnahmen der USA." [1] In Wahrheit fand gar kein Torpedoangriff statt, die Öffentlichkeit wurde durch die US-Regierung gezielt getäuscht. Lügen haben einen entscheidenden Vorteil: Sie werden in der Regel erst als solche entlarvt, wenn der Krieg längst vorbei ist.

Machen wir einen Sprung aus dem Jahr 1964 ins Jahr 2024. "Die Besatzung eines russischen Schiffes hat in der Ostsee auf einen Hubschrauber der Deutschen Marine geschossen", las man vor kurzem in den Medien. "Der Hubschrauber sei zur Aufklärung unterwegs gewesen, hieß es. Es soll sich um Signalmunition gehandelt haben." [2] Details wurden jedoch nicht bekanntgegeben. Unvermeidliche Folge war helle Aufregung im deutschen Blätterwald, man wähnte sich nur einen Schritt von einem Krieg mit Russland entfernt. Hubert Wetzel empörte sich in der Süddeutschen. Er suggerierte, "ein Hubschrauber der deutschen Marine" sei "über der Ostsee von einem russischen Öltanker aus 'beschossen' worden. (…) Abschreckung beruht darauf, dass beide Seiten zum einen möglichst genau wissen, wo die Grenzen der jeweils anderen Seite sind. Sie funktioniert zum anderen aber nur, wenn sie glaubwürdig ist. Und sie ist nur glaubwürdig, wenn ein Übertreten der Grenze gelegentlich eine entschlossene Reaktion auslöst." [3]

Ohne allerdings klarzustellen, wie die von ihm geforderte "entschlossene Reaktion" konkret aussehen soll. Fordern kann man ja mal, die lästigen Details überlassen Journalisten dann gerne den anderen. In den Leserkommentaren hielt man sich weniger zurück, dort wurden sogar - großzügig über die geltende Rechtslage (UN-Seerechtsübereinkommen) hinwegsehend - militärische Maßnahmen empfohlen (Kaperung des Schiffes, Verhaftung der Besatzung, ein Schuss vor den Bug, den russischen Schrottkübel an die Kette legen und in Griechenland verschrotten etc.). Was dann freilich in der Tat den Krieg mit Russland herbeigeführt hätte. Kleiner Hinweis: Der Öltanker wurde von einem russischen Kriegsschiff begleitet.

Das für gewöhnlich gut informierte Weblog "Augen geradeaus" von Thomas Wiegold berichtete dagegen, dass sich der Hubschrauber in einer Flughöhe von 300 m befand und noch rund 7 km (!) vom Tanker entfernt war, als die Signalmunition verschossen wurde. Zum Vergleich: Das ist dreimal so weit wie die Entfernung des Brandenburger Tores zum Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz. Und Signalmunition hat, je nach Munitionstyp, eine Reichweite von bis zu 300 m. Ob angesichts dessen überhaupt von einem "Beschuss" des Hubschraubers gesprochen werden kann, ist doch sehr fraglich. Und es kommt noch besser: "Die russische Seite habe sich anschließend über Funk entschuldigt, berichtet der Norddeutsche Rundfunk. Die in deutschen Verteidigungskreisen kursierende, ebenfalls nicht bestätigte Version: Die Russen hätten Schießübungen durchgeführt und mit der Signalmunition die Hubschrauberbesatzung warnen wollen." [4]

Die Regierung äußert sich dazu nicht. Warum eigentlich? Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius blieb in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vage, wollte der Öffentlichkeit keine näheren Umstände des Vorfalls mitteilen, weshalb man über das Ganze nur spekulieren kann. Doch das ist genau der falsche Umgang mit so einem Zwischenfall, denn damit füttert man bloß die Fake-News-Verbreiter. Die Bundesregierung warnt ständig vor der Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Verbreitung von Falschnachrichten oder Halbwahrheiten. Zu Recht, doch gerade deshalb muss sie die Öffentlichkeit aufklären. Wenigstens die Flughöhe und die Entfernung des Hubschraubers vom Tanker zum Zeitpunkt des Abfeuerns der Signalmunition sollte das Bundesverteidigungsministerium bekanntgeben, denn das würde, falls die Angaben von Thomas Wiegold tatsächlich korrekt sind, die Empörung sicherlich mit einem Schlag beseitigen. Es kann nicht im Interesse Deutschlands liegen, die ohnehin angespannte Lage durch missverständliche Meldungen zusätzlich anzuheizen. Es sei denn, man hätte, warum auch immer, Anlass, die Lage zu dramatisieren. Immerhin das, was man gemeinhin den Russen vorwirft.

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[1] Wikipedia, Tonkin-Zwischenfall
[2] NDR vom 04.12.2024
[3] Süddeutsche vom 05.12.2024 (Paywall)
[4] Augen geradeaus vom 04.12.2024